Der Zug
Claudia CappelloIL RACCONTO
Es sind schon über zwanzig Jahre vergangen. Ich war damals sieben oder vielleicht acht, so genau weiß ich das nicht mehr. Mein Vater arbeitete in einem Unternehmen, das Türen produzierte. Eine Tür, welch harmloser Gegenstand. Was konnte man schon damit machen, außer schließen und öffnen. Schon öfters hatte mein Vater Prospekte der im Unternehmen hergestellten Modelle mitgebracht und meiner Mutter und mir gezeigt. „Sieh doch wie schön!“, staunte die Mutter. Mir kamen sie alle gleich vor, einige waren braun, andere waren weiß. Ich hätte es viel lieber gesehen, wenn mein Vater Polizist oder Feuerwehrmann gewesen wäre. Oder Politiker, wie der Vater von Ulrike. Ich wusste zwar nicht genau, was ein Politiker zu machen hatte, doch war ihr Vater schon oft im Fernsehen und verdiente viel Geld, jedenfalls behauptete das Ulrike. Mein Vater hingegen war ein einfacher Arbeiter, nichts womit man bei seinen Klassenkameraden und Freunden prahlen konnte. Und als ein Teil der Produktion in eine andere Stadt verlegt wurde, und mein Vater mit musste, und meine Mutter und ich deshalb auch mit mussten, bekam ich erst recht einen Hass auf diese verdammten Türen, obwohl diese eigentlich gar nichts dafür konnten.
Die neue Stadt war eine graue Stadt mit vielen hohen Häusern. Meine Familie bezog eine kleine Wohnung in einem großen hellgrün gestrichenen Wohnblock am Rande dieser Stadt. In der Schule war ich einfach die Neue. Die anderen Kinder mieden mich. Ich wollte auch gemieden werden. Da war dieses Mädchen, mit den langen Zöpfen, die unheimlich klug aussah und sicher auch einen berühmten Vater hatte. Ein anderes Mädchen hatte lange, schwarz umrandete Fingernägel, vor denen es mich sehr ekelte. Evelyn schwatzte ständig mit ihrer unerträglich schrillen Stimme, eine Qual für meine Ohren. Saviola trug immer lange Kleider und roch irgendwie anders. Ich wollte wirklich gemieden werden. Ich trauerte meinen alten Klassenkameraden nach.
Erst allmählich freundete ich mich mit ein paar Jungs aus unserem Wohnblock an. Sie ließen mich mit Fußball spielen. Ich durfte im Tor stehen und wenn ich den Ball ins Gesicht bekam, versuchte ich tapfer die Tränen zurückzuhalten. Das kam bei den Jungs gut an und deshalb zeig-ten sie mir auch, wie man Pfeil und Bogen schnitzte. Wir spielten Cowboy und Indianer. Ich war die Indianerfrau, die von den Bösewichten entführt wurde. Ich genoss es, das einzige Mädchen zu sein, auch wenn mich die Jungs oft dazu verdonnerten, im Zelt zu bleiben um das imaginäre Essen vorzubereiten und ich dabei die tollen Schlachten, die sie sich inzwischen lieferten, verpasste.
Mit den Jungs war es schön, doch manchmal tauchte ich ein in eine andere Welt, in die Welt der Schienen. Der Wohnblock, in dem wir wohnten, stand in der Nähe des Bahnhofes. Von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends ratterten stündlich Züge vor unserem Haus vorbei. Die Schienen führten auf einen etwas höher gelegenen Bahndamm entlang, gesäumt von Holunderbeer- und Brombeersträuchern und sonstigem Gestrüpp. Oft stand ich im Hof und winkte dem vorbeifahrenden Zug zu, unübersehbar, mit beiden Armen. Manchmal winkte der eine oder andere Fahrgast zurück. Das laute Getöse, die Geschwindigkeit, der Luftzug versetzten mich in eine Art Rausch. Immer wieder nutzte ich den Lärm, beteiligte mich an ihm und schrie unbemerkt aus Leibeskräften mit ihm mit, nur wenige Sekunden lang, dann war alles wieder vorbei, ich lachte und fühlte mich unbeschreiblich befreit. Hin und wieder saß ich auch nur da und versuchte Gesichter der im Zug sitzenden Menschen zu erhaschen. Es waren die Menschen, die in den braunen Zügen fuhren. Drei Waggone, jeweils sechs Fenster, hinter denen Gesichter zu sehen waren. Ich gab diesen Gesichtern Namen und dachte mir Geschichten dazu aus. Maria wirkte müde und traurig. Niemals sah sie aus dem Fenster. Immer musste ich mich mit ihrem Profil begnügen. Vielleicht las sie bloß ein Buch, durchfuhr es mich eines Tages, und irgendwie war ich bei diesem Gedanken ganz erleichtert, denn die traurige Maria tat mir ziemlich leid. Mit einer lesenden Maria hingegen, mit einer Maria, die vielleicht auch ein trauriges Buch las, konnte ich viel besser leben. Manche Gesichter, wie das von Maria, sah ich beinahe täglich. Sie hatte ich am liebsten. Ich suchte nach ihnen im vorbeirauschen Zug und war enttäuscht, wenn ich sie nicht sah.
Nicht selten kletterte ich auf die Schienen, obwohl es strengstens verboten war, um dann, wenn der Zug nahte, herunter zu springen. Ich fühlte mich mutig und furchtlos. Jedes Mal staunte ich jedoch, wie lange es eigentlich noch dauerte bis der Zug schlussendlich an mir vorbeirollte. Da lächelte ich zu mir selbst und stellte fest, dass ich im Grunde ein sehr vorsichtiger Mensch bin. Trotzdem war das Spiel mit der kleinen Gefahr kribblig und es machte mir Spaß.
An anderen Tagen vertrieb ich mir die Zeit damit, kleinere Hindernisse auf den Schienen aufzubauen. Einen Ast. Ich war überrascht, wie er problemlos zerbrochen wurde. Steine, zuerst einen, dann mehrere. Für die schweren, rollenden Räder des Zuges ein Kinderspiel, sie zur Seite zu schieben. Mit der Zeit, als ich immer kniffligere und solidere Barrikaden baute, wurde mir dann doch etwas mulmig dabei. Was ist, wenn der Zug wirklich entgleisen würde? Vorerst gab ich nur besonders darauf Acht, dass mich niemand sah. Man sollte mich nicht mit einen eventuellen Zugunfall in Verbindung bringen können. Dann beschränkte ich mich auf Güterzüge, damit keine Menschen zu Schaden kamen, sollte doch mal etwas schief gehen. Schlussendlich aber ließ ich es doch lieber ganz sein. Ich beschränkte mich wieder auf das Beobachten.
Ich sah zu wie die gelben Wartungsmaschinen vorbeifuhren, langsam, manchmal stehen blieben um die hölzernen Schwellen auszuwechseln, Unebenheiten mit Schotter aufzufüllen, oder um ein weißes Pulver entlang der Schienen zu verstreuen, von dem ich lange nicht wusste wozu es gut sein sollte. Einmal sah ich, wie ein Bahnwart auf den Mast mit dem groß abgebildeten Totenkopf hinaufkletterte und am Fahrdraht des Zuges herumhantierte. Plötzlich sprühten Funken und der Mann wich ruckartig mit einem Schrei zurück. Sofort rannte ein Arbeitskollege herbei. Mit angespannten Sinnen verfolgte ich das Geschehen und war dann fast ein wenig enttäuscht, als der Mann mit dem blauen Anzug eine beschwichtige Bewegung machte, dass alles in Ordnung sei. Nicht, dass ich mir ein Unglück herbeigewünscht hätte, aber trotzdem.
Ich lernte die Uhr zu lesen, anhand der Zugfahrpläne. Um 6.03 Uhr der erste Zug, ein brauner, von unserem Bahnhof in Richtung Welt. Diesen Zug verschlief ich meistens, besonders im Winter. Doch das war egal, denn im Winter konnte ich doch nur undeutliche schwarze Umrisse mit vorbeihuschenden hell erleuchteten Fenstern erkennen. Ich stand fast immer mit dem Zug auf, der um 7.03 Uhr vor unserem Haus vorbeirollte. An Schultagen versäumte ich die ganzen Morgenzüge, auch den orange-grauen, der bis zu dreizehn Waggons zog, der um 10.38 Uhr vorbeischoss. Am lautesten waren die Güterzüge, mit Baumstämmen, neuen Autos und bunten rechteckigen Kisten beladen. Diese fuhren nicht regelmäßig. Wenn, dann um 18.10 Uhr.
Eines späten Nachmittags, ich glaube es war im Herbst, gab es bei uns zu Hause eine riesige Aufregung. Es hatte mit dem Zug zu tun. Mein Vater hatte beim zufälligen Blick aus dem Fenster ein sonderbares Häufchen auf den Schienen erblickt. Ich habe heute nichts auf die Schienen gelegt, dachte ich bei mir, eigentlich sonderbar, dass andere Menschen auch so etwas tun. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte mein Vater in dem Häufchen einen zusammengekauerten Menschen. Der Zug würde bald vorüber fahren. Mein Vater stürzte aus dem Haus, lief zu den Schienen hoch, ein aufmerksamer Nachbar hinterher. Mit vereinten Kräften zerrten die zwei Männer das Häufchen von den Schienen. Dieses wehrte sich, schrie. Bald darauf trafen die Polizei und der Rettungswagen mit Blaulicht ein und dann ein lautes Getöse, der Zug fuhr vorüber. Das Häufchen, ein Mann, wurde mit dem Rettungswagen weggeführt; die Polizisten unterhielten sich noch eine Weile mit meinem Vater und dem Nachbarn. Ich fragte meine Mutter, warum der Mann auf den Schienen gelegen hatte. Ein Verrückter, sagte sie, er wollte sterben. Mein Vater kam nach Hause. Er hatte zerkratzte Arme, der Lebensretter, ich war so stolz auf ihn. In der Abendausgabe der Nachrichten erwähnte man sogar seinen Namen, zwar nicht den vollständigen, aber ich wusste, was geschehen war und dass mein Vater gemeint war, als man vom wachsamen Anwohner H. R. sprach. Mein Vater war etwas Besonderes, ein Held, endlich.
Am nächsten Morgen, es war wohl Sonntag, denn ich hatte keine Schule, kletterte ich auf die Schienen und betrachtete lange die Stelle, auf der der Mann zusammengekauert gelegen hatte. Es war genau die Stelle, von der ich immer weg sprang, wenn der Zug nahte, genau die Stelle, auf der ich meine Experimente hinsichtlich Hindernisse zur Zugentgleisung durchgeführt hatte, eine leicht erreichbare Stelle und doch ein wenig von den Blicken anderer versteckt. Ich stand da und sah zu beiden Seiten den Schienen entlang, einmal Richtung Bahnhof und dann Richtung Welt, wie ich damals meinte. Man könnte glauben, die Schienen hätten keinen Anfang und kein Ende, doch plötzlich tat sich hier unter meinen Füßen eine Tür auf, eine Tür von der ich nicht mal wusste, dass es solche Türen gab. Es war die Tür zum Gedanken des Todes, meine erste Begegnung mit ihm. Es lief mir kalt über den Rücken. Ich sah zu meinen Füßen hinunter, die sich nicht bewegen konnten. Ich glaube eine Ewigkeit dort oben so gestanden zu haben. Endlich schloss sich die Tür wieder. Ich war froh darüber.
Seit damals bin ich nie mehr auf die Schienen geklettert, nie mehr habe ich haltlos gelacht, wenn der Zug vorüber fuhr. Er hatte auf einmal eine andere Bedeutung für mich. Ich musste immer an das Häufchen denken, dem Mann, der sein Leben beenden wollte, ein Verrückter, wie meine Mutter sagte. Und ich musste an diese sonderbare Tür denken, die mir eine Welt gezeigt hat, die ich erst heute, viele Jahre später, beginne zu begreifen.