Richtung Norden
William SperandioWilliam Sperandio
1991 in Montebelluna (TV) geboren, mit französischer Mutter und italienischem Vater. Er lebt in Canal San Bovo (TN) und besucht die 5. Klasse des Humanistischen Gymnasiums in Feltre (BL). Als Privatschüler nimmt er Unterricht in klassischer Gitarre, um das Konservatoriumsdiplom zu erhalten. Aktuell hat er die Prüfung der mittleren Stufe (8. Jahr) bestanden. Auf diesem Gebiet wurden ihm schon nationale (Spoleto, Umbrien 2004, 1. Platz) und internationale (Görz, Friaul 2006, 3. Platz; Modena 2008, 1. Platz) Auszeichnungen verliehen. Während seiner Aufenthalte in Frankreich und Deutschland hat er französische und deutsche Schulen besucht. Er ist zweisprachiger italienisch-französischer Bürger; er spricht und schreibt außerdem auf Deutsch und Englisch. 1. Platz der 1. Kategorie bei "Frontiere-Grenzen" 2007 (Außerordentlicher Preis der Raiffeisenkasse). Er hat vor, einen Studiengang in "Internationalen Wissenschaften und Beziehungen" am Institut Sciences Po in Paris zu belegen. Er liest und verreist gerne ins Ausland. Er pflegt Kontakte über Chats in Italien und dem Ausland; er übt verschiedene Sportarten aus, mit Vorliebe Schwimmen und Skifahren.
LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA
"Richtung Norden" ist eine geheimnisvolle und gerade deshalb faszinierende Erzählung.
Teo, ein Mann, der an starken Gedächtnisausfällen leidet und in einen Zug nach
Deutschland gestiegen ist, wo ihn eine schwierige Operation erwartet, trifft im Schlafwagenabteil
auf einen alten Klassenkameraden, damals von allen Tappo genannt, der
zusammen mit ihm ein Schlüsselereignis ihrer Kindheit ins Gedächtnis zurückruft.
Nachdem ihre Unterhaltung durch den Anruf von Lia, Teos Frau, unterbrochen wurde,
verschwindet Tappo auf rätselhafte Weise. Die Leser dieser Erzählung bleiben mit dem
Eindruck zurück, dass die Grenzen zwischen Realität und Fantasie (die Zutaten, aus
denen diese Erzählung besteht) labil und durchlässig sind, so wie diejenigen zwischen
Erinnerung und Vergessenheit im verwirrten Gehirn der Hauptfigur.
IL RACCONTO
Der Brief mit dem Termin traf Ende April ein, als wir fast nicht mehr mit ihm
rechneten. Lia stand neben dem Kirschbaum und lächelte mir zu, als ich den Rasen
mit der Post in der Hand betrat. Es war ein sonnenreicher Frühling gewesen.
Ich überreichte ihr den Brief, ich hatte ihn schon geöffnet, und während sie ihn
las, nahm ich einen Zweig und begann, die Blüten auszudünnen. Nächsten Montag
schon, sagte sie. Ja, bemerkte ich. Es steht nicht darin, wie lange du wirst bleiben
müssen, fügte sie hinzu. Es war von einer Woche die Rede, sagte ich, aber wir werden
sehen müssen, wie die Dinge so laufen. Als ich mich umdrehte, wandte sie ihren
Blick ab und ich begriff, dass sie kurz vorm Weinen stand. Ich schaute ihr hinterher,
während sie den Rasen überquerte, um die Küchentür zu erreichen.
Am Sonntagabend brachte sie mich in die Stadt zum Bahnhof. Es fing zu dämmern
an und während wir dort standen und warteten, gingen die Laternen an.
Ich umarmte sie. Ich steige ein, sagte ich ihr. Ich nahm den Koffer, stieg in den
Zug und lief zurück bis zu den Schlafwagen. Als ich dort ankam, war sonst niemand
da, bis auf eine Zahnbürste in einem Plastikbecher, der auf einem Bord
unter dem Spiegel stand. Ich näherte mich dem Fenster. Lia stand noch auf dem
Bahnsteig. Es dauerte eine Weile, bis sie mich entdeckte. Sie kam auf mich zu
und hielt genau mir gegenüber, es schien, als wolle sie mir etwas sagen. Ich deutete
ihr, dass man das Fenster nicht öffnen konnte. Wir schauten uns vielleicht
eine Minute lang an. Dann senkte sie den Blick, drehte sich um und ging.
Ich hing die Anzugjacke an einen Kleiderhaken neben dem Fenster, schloss die
Tür und legte mich auf den untersten Schlafplatz. Kurz darauf begannen meine Gedanken
frei zu fließen und ich döste ein. Ich wachte auf, als ein über mich gebeugter
Unbekannter meinen Arm anfasste. Entschuldigen Sie, Sie liegen auf
meinem Schlafplatz. Er zeigte auf seine Fahrkarte, die er mir vorhielt.
Der Zug
hatte sich in Bewegung gesetzt. Aber dass bist doch du, Teo, rief er, ich schaute
ihn an. Er hatte eine leichte Alkoholfahne. Nichts an ihm war mir vertraut. Erinnerst
du dich nicht mehr an mich? fragte er mich. Nein, antwortete ich. Ich bin
Tappo. Er schaute mich hoffnungsvoll an. Tappo? fragte ich. Er lachte kurz auf. So
war es doch, wie ihr mich nanntet, erklärte er. Ich sagte ihm, dass ich mich an
keinen Tappo erinnerte, dass er mich mit jemand anderem verwechselt haben
musste. Nein, nein, nein. Du heißt doch Teo? Ja, erwiderte ich. Dann kennen wir
uns, schloss er. Er legte sich in das unterste Bett, genauso wie ich es getan hatte.
Soso, du erinnerst dich also nicht mehr an den großen Burschen der Klasse A?
Nein, antwortete ich. An den Dicken, den ihr Tappo nanntet? Ich sagte nichts.
Aber ich kann mich noch gut an dich erinnern, fügte er hinzu. Der Teo mit dem
blonden Haar. Der Teo mit dem Crossfahrrad. Der Teo, der die Hose runterzog,
wenn der Bus vorbeifuhr. Da fährst du also jetzt nach Deutschland? fragte er
mich. Ja, erwiderte ich. Geschäftsreise? Ich schüttelte den Kopf. Ich muss operiert
werden, sagte ich. Und deshalb fährst du bis nach Deutschland? fragte er.
Ich bemerkte, dass es doch etwas Bekanntes an ihm gab, aber ich konnte schwer ausmachen,
was. Er zog ein Fläschchen aus der Hosentasche, trank einen Schluck
und reichte es mir. Sobald ich daraus trank, entflammte meine Kehle. Ich gab ihm
das Fläschchen zurück, nahm die Anzugjacke vom Kleiderhaken und zog sie bedächtig
wieder an. Gehst du weg? fragte er. Vorm Schlafengehen brauche ich ein
Bier, antwortete ich. Na klar, sagte er, na klar.
Es war ein moderner Zug, die Türen öffneten sich, noch bevor ich sie anfassen
konnte. Im Speisewagen war kein Mensch. Ich nahm ein Bier und setzte mich
an einen Tisch am Fenster. Beim Trinken starrte ich durch mein Spiegelbild hindurch
in die Nacht, die langsam einbrach. Vielleicht kam es davon, dass ich nichts
gegessen hatte, ich weiß es nicht, auf jeden Fall hatte der Alkohol eine sofortige
Wirkung auf mich. Ich leerte die Bierflasche und kaufte noch eine weitere.
Ab
und zu neigte sich der Zug zur Seite und verursachte mir ein Schwindelgefühl.
Als ich bei der Hälfte des dritten Bieres war, fing das Handy in der Innentasche
der Jacke an zu vibrieren. Ich zog es heraus, doch alles war so weit weg, ich blieb
sitzen und schaute auf ihren Namen auf dem Bildschirm und dachte daran, dass
uns ein Gespräch nicht geholfen hätte, mehr Nähe füreinander zu verspüren. Als
es aufhörte zu klingeln, stellte ich es aus und steckte es zurück in die Jackentasche.
Antwortest du nicht? fragte eine Stimme. Es war Tappo, der in den Speise
wagen gekommen war und am Tresen stand. Die Kellnerin, die ihm gerade ein Bier
servierte, schaute zu mir rüber. Ich sagte: Nicht immer ist man in der richtigen
Stimmung zum Reden. Tappo nahm sein Bier, bezahlte und setzte sich an meinen
Tisch. Du willst also nicht mit deiner Frau reden? fragte er mich.
Es sieht so aus,
als wüsstest du eine ganze Menge über mich, bemerkte ich. Es gibt nie viel zu wissen,
und außerdem ist es absolut normal, dass der Verlierer sich an den Gewinner
erinnert, und nicht umgekehrt. Ich fragte ihn: Dann betrachtest du dich also als
einen Verlierer? Ja, antwortete er. Er schaute mir geradeaus in die Augen. Weißt
du, sagte er, früher bewunderte ich dich. Weshalb? fragte ich ihn. Du warst sehr
selbstsicher, du kamst gut bei den Mädchen an, du warst gut in der Schule... Doch
dann, fügte er hinzu, hörte ich eines Tages auf, dich zu bewundern. Ich fragte ihn,
wann. Es war das Jahr, in dem alle einen Drachen hatten, erzählte Tappo. Kannst
du dich daran erinnern? Überall sah man Drachen. Sobald auch nur ein kleines
Lüftchen ging, konnte man zusehen, wie sie von den Dorfwiesen aus hochgingen.
Ich konnte mich daran erinnern. Tappo hatte meinen Drachen noch genau im Sinn.
Es sei der schönste gewesen, den er je gesehen hatte.
Eines Tages, als eine leichte Brise wehte, war mein Drachen über den Kran
emporgeschnellt, der damals an der Seite des Hügels talwärts der neuen Schule
stand, und das Seil hatte sich dort oben verfangen. Tappo beschrieb die Gruppe
Jungs, die sich zu Füßen des Krans versammelt hatten, er erzählte, wie sie alle
dort standen, mir aufgeregt zuschauten, während ich den Sicherheitszaun neben
der Schule überkletterte. Ich war über die Kabine des Kranführers hinaus hochgeklettert
bis zu dem Punkt, wo die Leiter aufhörte und dort hatten sie mich mit
den Augen verfolgt, wie ich mich ausstreckte und anfing, dem Kranarm entlang
nach außen hin zu kriechen; nach wenigen Armbewegungen hatte ich jedoch inne
gehalten und war regungslos geblieben.
Das war, als die Panik begann, sich in mir
breitzumachen. Sie dachten, ich könnte von einer Minute zur anderen ohnmächtig
werden und runterfallen. Sie begannen, meinen Namen zu rufen. Teo! schrien
sie. Nur los Teo, nur los! Am Ende hatte jemand die Erwachsenen herbeigerufen.
Wart ihr wirklich erschrocken? fragte ich ihn. Natürlich, antwortete er. Aber,
du kannst mir glauben, ich habe dich beneidet. Stell dir mal vor, die gesamte
Gruppe steht da und ruft deinen Namen! Und was haben wir gejubelt, als du runtergekommen
bist. Während Tappo erzählte, machte die Bedienstete des Restaurants
die Deckenbeleuchtung erst an und dann wieder aus, uns sollte klar werden,
dass es Zeit war zu gehen. Und dann, fragte ich ihn, was passierte dann? Die
Worte blieben ihm im Hals stecken und er führte das Glas an die Lippen, doch
dann merkte er, dass es leer war und stellte es zurück auf den Tisch. Und so hast
du also aufgehört, mich zu bewundern? fragte ich ihn. Er nickte mit dem Kopf. Ich
habe für Nichts mehr Bewunderung empfunden, sagte er.
Ein Schaffner durchquerte den Waggon und blieb vor uns stehen. Heißt einer
von Ihnen Teo de Belfi? fragte er. Er ist es, sagte Tappo und deutete mit dem Kopf
in meine Richtung. Sie werden am Telefon verlangt, erklärte der Schaffner. Kommen
Sie mit. Bevor ich ging, schaute ich in Tappos Richtung, doch unsere Blicke kreuzten
sich nicht, er war mit hängendem Kopf sitzen geblieben und kratzte sich am
Hals. Ich folgte dem Schaffner durch die Abteile. Als wir am Kopf des Zuges angekommen
waren, öffnete er eine Tür mit einem Schlüssel, den er an einem elastischen
Band hängen hatte, und wir gingen rein. Am Ende des Raums führte eine halboffene
Schiebetür zum Schaffnerzimmer und daneben hing ein Telefon. Ich presste den Hörer
gegen das Ohr und sagte hallo, doch niemand antwortete. Lia, sagte ich, was ist?
Dann hörte ich ihre Stimme. Es ist die Dunkelheit, antwortete sie einfach. Deshalb
hast du angerufen, sagte ich. Sie fragte mich, warum ich das Handy ausgeschaltet
hatte. Der Akku ist leer, log ich. Die Zugscheinwerfer projizierten ein unheimliches
Licht auf die Gleise, die in der Dunkelheit vorbeiliefen, Richtung Norden, immer weiter
in Richtung Norden. Auf einmal bogen sie sich seitwärts und der Zug neigte sich
beim Einfahren einer Kurve und gab einen Pfiff von sich. Was war das? fragte Lia.
Es
ist nur die Lokomotive, erklärte ich. Oh, sagte sie, ich dachte, es sei eine Sirene. Ich
erzählte ihr, dass ich einen alten Bekannten getroffen hatte. Sie wollte wissen, wer
es war und ich antwortete: Tappo. Tappo? fragte sie. So nannten wir ihn, erklärte ich.
War es einer von denen, die ihr auf den Arm nahmt? fragte sie. Ich weiß nicht, sagte
ich, ich erinnere mich nicht an ihn, er erinnert sich an mich, ich mich aber nicht an
ihn. Lia schien der Verzweiflung nahe: Oh, nein, sagte sie, schon wieder dein Gedächtnis.
Ich blieb still. Warum nahmt ihr ihn denn auf den Arm? hakte sie nach.
Ich
weiß nicht, antwortete ich, ich kann mich nicht an ihn erinnern. Oh, Teo, rief sie aus.
Bleib ruhig, es ist absolut normal, dass man sich nicht mehr erinnern kann an diejenigen,
die... Diejenigen, die was? fragte sie. Ich wechselte das Gespräch. Ich fragte
sie, wie sie es geschafft hatte, die Telefonnummer herauszufinden, was sie gesagt
hatte, um mit mir reden zu können. Sie antwortete nicht. Irgendetwas wirst du doch
gesagt haben müssen, beharrte ich. Ich habe gesagt, dass du krank bist, gab sie zu.
Ich habe gesagt, dass wir uns vielleicht nicht mehr wieder sehen werden. Sie begann,
zu weinen. Bei ihm, bei Tappo, musst du dich entschuldigen. Ja, sagte ich ihr. Versprichst
du es mir? Ja, antwortete ich. Teo, fragte sie, liebst du mich? Sie lachte kurz
auf und schniefte. Nach einer Weile sagte ich: Ich lege jetzt auf. Ich liebe dich, fügte
ich hinzu. Dann hängte ich den Hörer auf.
Ich ging in den Speisewagen zurück. Die Lichter waren ausgemacht und vor
dem Tresen war der Rollladen runtergelassen worden. Es war niemand mehr da. Ich
lief weiter durch die Abteile und betrat meinen Schlafwagen. Tappo war nicht da.
Das Fläschchen lag auf dem Kissen und auf dem Boden vor dem Waschbecken lag
eine rote Reisetasche. Ich setzte mich auf seinen Schlafplatz. Ich blieb so sitzen,
aber Tappo kam nicht und am Ende muss ich wohl eingeschlafen sein, weil ich
mich nur entsinne, dass auf einmal im Abteil viel Licht war, dass ich Kopfweh
hatte und dass das Federbett feucht vom Grappa war. Ich stand auf und mein
Blick fiel auf Tappos Zahnbürste. Er hatte um den Stiel etwas Tesafilm gewickelt,
um einen besseren Griff zu haben.
Ich beschloss, einen Rundgang durch den Zug
zu machen. Ich lief bis zur Lock ohne auf ihn zu treffen. Ich überprüfte die Türen,
über die man aussteigt, um nachzuschauen, ob man sie vielleicht während der
Fahrt hätte öffnen können, doch so war es nicht, und dasselbe galt für die Fenster.
Ich kehrte in mein Abteil zurück und blieb dort sitzen, auf Tappos Schlafplatz,
bis der Zug seinen Ankunftsort erreichte. Nach wenigen Minuten klopfte es
an der Tür. Es war der Schaffner. Er wollte sich nur vergewissern, dass alle wach
waren. Ich fragte ihn, ob er den Typ mit der Jacke, mit dem ich mich am Vorabend
unterhalten hatte, gesehen hätte. Er dachte darüber nach, doch er konnte sich
nicht erinnern, ihn getroffen zu haben. Er wird wohl an einem Zwischenbahnhof
ausgestiegen sein, sagte er. Ja, bestätigte ich, so wird’s wohl sein.
Mir schien es richtig, das Gepäck von Tappo mitzunehmen. Ich stopfte die
Zahnbürste und das Fläschchen in die Reisetasche, die sich als leer entpuppte, bis
auf eine orthopädischen Halskrause aus Plastik und Schaumstoff. Dann nahm ich
meine Tasche und stieg aus dem Zug. Eine Rolltreppe führte mich in den Warteraum,
wo die Sonne schon durch die großen Fenstergläser schien. Ich lief zur Warteschlange
für die Taxen und nahm dann auf dem Hintersitz des ersten Wagens
Platz. Zum Krankenhaus bitte, sagte ich.