Die himmlische HÖlle
Martina Dei CasMartina Dei Cas
Ich bin 1991 geboren, lebe in Ala (TN) und gehe in die fünfte Klasse des Wirtschaftlichen Gymnasiums am Istituto Fontana in Rovereto. Von klein auf habe ich schon immer gerne Fantasie und Realität analysiert, um neue Geschichten und Figuren zu erfinden, die meine Emotionen und Empfindungen denjenigen übermittelten, die Lust hatten, sie zu hören. Auf diese Weise ist meine Leidenschaft für das Schreiben entstanden. Ich habe mit positiven Ergebnissen auch an anderen Literaturwettbewerben und an der letzten Ausgabe von "Frontiere-Grenzen” teilgenommen. In meiner Freizeit helfe ich Grund- und Mittelschulkindern bei den Hausaufgaben. Ich mag es, ins Schwimmbecken zu springen, die größtmögliche Anzahl Bücher zu verschlingen, mich im Erlernen von Fremdsprachen zu versuchen, zu verreisen, auf der Suche nach geheimnisvollen Orten, und mich mit Kulturen und Bräuchen, die von meinen entfernt sind, auseinanderzusetzen.
LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA
"Die himmlische Hölle" ist eine Erzählung über Berge, Frieden und Konflikte, über starke Charakter, die im Herzen des Himalajas zu einer Auseinandersetzung aufgerufen sind. In die einfache aber ehrliche Begegnung zwischen Franco, einem italienischen Bergsteiger, Suresh, einem indischen Träger und Asif, einem pakistanischer Soldaten, fädelt der Autor diskret ewige Themen ein. Und im Satz "Der Sturm verschont niemanden, vor ihm sind wir alle gleich" sind es gerade jene Grenzen, die man dort oben krampfhaft abstecken und verteidigen will, auch mit Hilfe der Waffen, welche wenigstens für einmal untergeordnet und in eine menschlichere Dimension zurückgeführt werden. Die Dimension von jemanden, der es geschafft hat, die Kraft des Dialogs anstelle von einem nur auf Kraft gegründeten Dialog zu finden.
IL RACCONTO
Suresh beobachtete den Flughafen von Srinagar und verdrehte dabei seine
Finger, um die Aufregung zu verbergen. Er war ein schmächtiger Mann, mit leicht
schiefen Schneidezähnen. Er war einfach gekleidet und niemand hätte sich je vorstellen
können, dass sich hinter dieser unauffälligen Erscheinung einer der erfahrensten
Kenner des Himalajas verbarg.
Suresh hatte nämlich schon viele erfahrene Bergsteiger in die höchsten Gipfel
der Welt begleitet und bisher waren alle lebendig, gesund und zufrieden zurückgekehrt.
Diese war jedoch keine Herausforderung wie die anderen: Sein neuer Kunde
war nämlich Franco Ardito, ein Italiener, eine Legende, der nach dem Tod eines
Speditionskameraden in einem Schneesturm seiner Leidenschaft abgedankt hatte.
Drei Jahre lang war er nicht mehr mit dabei gewesen, doch am Ende hatte der Berg
ihn wieder zu sich gerufen und er hatte geantwortet, indem er den Inder kontaktiert
und ihn als Führer zwischen den spitzen Gipfeln des Karakoram verpflichtet
hatte. Es war keine schwierige Route, für Suresh war sie dennoch anspruchsvoll.
Es war schließlich nicht etwas ganz Alltägliches, die Flügel eines verletzten Adlers
zu kurieren, oder vielleicht vertrauten sich nicht alle verletzten Adler einem
bescheidenen Führer an, um wieder fliegen zu können. Oft stürzten sich nämlich
die Bergsteiger, die ihre Kameraden überlebt hatten, in tollkühne Abenteuer, oder
sie hingen die Bergschuhe für immer an den Nagel. Franco hingegen hatte sich
dafür entschieden, mit der Vergangenheit aufzuräumen, seine geheimsten Ängste
zu überwinden.
"Die Maschine 1234 aus Delhi ist an Gate 5 gelandet", die krächzende Stimme
aus dem Lautsprecher lenkte Suresh von seinen Sorgen ab. Der Mann machte sich
auf zur Ankunftshalle. Zwischen Familienwiedervereinigungen und Geschäftsmännern
entdeckte er den Italiener und stellte sich vor. Der Bergsteiger gab ihm einen
Klaps auf die Schulter: Im Nu war das Eis gebrochen und es war, als seien die beiden
schon seit ewig Freunde gewesen. Sie traten raus auf die überfüllten Strassen
und fuhren zum Treffen mit den Trägern.
Sie ließen die Außenbezirke der Stadt hinter sich und begannen den Dal See entlangzufahren,
auf dessen stillem Wasser die schwimmenden Häuser vorbeizogen.
Endlich erreichten sie ein kleines Dorf zu Füßen der Berge und Suresh stellte Franco
die Träger vor: Sie waren zu dritt, klein und zart, und hatten von der Sonne gezeichnete
Gesichter. Er begrüßte jeden einzeln und bedankte sich überschwänglich.
Suresh war sprachlos: Noch nie war er einem Bergsteiger begegnet, der sich
so herzlich zu einfachen Trägern verhielt, die naturgemäß einer niederen Klasse
angehörten. Nicht, dass es bestimmte Verhaltensmuster dafür gab… doch jene
nicht ausgeschilderte Grenze war schon seit Jahrtausenden in der indischen Kultur
verwurzelt: Die Reichen sprechen nicht zu den Untergebenen, zumindest nicht
mit Ehrerbietung. So war es einfach.
Der Italiener hatte sie gerade überschritten, ohne jedoch auch nur ein Quäntchen
Autorität dafür einzubüssen. Im Gegenteil! Jetzt würden die Träger ihre Aufgabe
wahrscheinlich mit noch mehr Eifer ausführen!
Ja! lächelte Suresh vor sich hin, noch nie war ein Name so zutreffend gewesen
wie der von Franco Ardito 1, aufrichtig wie ein echter Leader und mutig wie
ein Schneeleopard. Am darauf folgenden Morgen begannen sie hochzusteigen. Zur
Dämmerung schlugen sie die Zelte auf und bei Sonnenaufgang ging es wieder los.
Ein Tag folgte auf den anderen, immer gleich.
Sie sahen zwei Adler und einen Schneeleopard. Es war, als wolle die Natur sie
in jenem unbefleckten Land willkommen heißen.
Am fünften Tag aber veränderte sich etwas: Die Luft wurde stechender, die
Wolken bedrohlicher. Ein Sturm war im Angriff.
Franco litt still vor sich hin, doch seine Unterlippe zitterte. Suresh klopfte
sich selbst auf den Kopf: Es war nicht richtig, dass Ardito sich gerade jetzt mit seinen
Dämonen auseinandersetzen musste, er war noch nicht so weit, dass er aus
einem solchen Kampf als Gewinner hätte hervorgehen können.
Zum Glück schlug ein Träger vor, entlang einem steilen Saumpfad weiterzulaufen,
an dessen Ende sich eine Höhle befand, wo sie hätten Unterschlupf finden können.
So begannen sie, in eines der Seitentäler hinabzusteigen, wo die Legende von
Shangri La, der als Wiege der Unsterblichkeit bekannten Eisstadt, entstanden war.
Doch der Frieden war noch entfernt von jenem gemarterten Boden. Überall traf
man auf leere Patronenhülsen und Plastiktüten, ein Zeichen, dass die Armee kurz
vorher dort vorbeigezogen war. Der Schnee war rot gefärbt auf jenen Bergen, rot
wie das Blut und wie der Sonnenaufgang, doch zum Sonnenaufgang war es noch
weit und Indien, Pakistan und China tappten im Dunkeln und wussten nicht, wie
sie sich Kaschmir teilen sollten… als ob es damit getan wäre, ein Lineal zu nehmen
und vier Grenzen auf eine Landkarte einzuzeichnen!
Sicher, offiziell hatten sie zwar ein Abkommen getroffen, doch in Wirklichkeit
patrouillierten mehr oder weniger reguläre Milizheere die Grenzen, und schossen
ohne Vorankündigung auf jeden, der sich darüber hinaus traute… worüber hinaus
eigentlich? Es gab weder natürliche noch künstliche Hindernisse, nur furchtlose
junge Männer, die in die Berge geschickt wurden wie Einsiedler, mit einer Kalaschnikow
wie Banditen, um sich für wenige Meter eines vereisten Nichts gegenseitig
zu erschießen, während ihre Generäle bei internationalen Gipfeltreffen
zusammen Tee tranken.
Suresh betrachtete die Felsen, Spitzsäulen eines Tempels im Freien, bis zum
Mark entheiligt im Namen kurzsichtiger wirtschaftlicher Interessen und gegenstandsloser
religiöser Begründungen.
In diese Gedanken gehüllt, bemerkte der Mann weder die Spuren von Bergschuhen
noch die Zigarettenkippen, die den Wegrand säumten. Er, Franco und die
Träger legten das letzte Stück, das sie von der Höhle trennte, fast laufend zurück
und merkten erst zu spät, in welche Falle sie geraten waren.
Eine Schar pakistanischer Soldaten hatte dieselbe Idee gehabt und bedrohte
sie nun mit gezogenen Gewehren. Suresh wusste nicht, was er tun sollte: Sie
waren dem Feind vollkommen ausgeliefert.
Der Führer verfluchte sich selbst, weil er sich von der Eile hatte leiten lassen,
zu weit nördlich vom sicheren Weg abgekommen war und nicht daran gedacht
hatte, dass sich in diesem Niemandsland die Grenzen ständig verschieben.
Auf einmal erschien der Soldat mit dem höchsten Grad, der behauptete sich
Asif zu nennen, und nahm sie als seine Gäste auf, ein schonenderes Wort für "Gefangene".
Franco ließ sich nicht aus der Fassung bringen und begann, seine eigene Geschichte
zu erzählen, und fügte dabei hinzu, dass er nicht gewusst hatte, dass sie
sich auf pakistanischem Boden befanden. Dem war auch nicht so, gab Asif zu, er
und die Seinen waren nur gekommen, um einige Rebellen aufzustöbern.
Dann lud er Suresh und Franco ein, sich ans Feuer zu setzen. Der Inder sah aus
wie ein verwundetes Tier, und der Italiener war wieder einmal überrascht: Er
wusste zwar, dass Pakistaner und Inder nicht gut aufeinander zu sprechen waren,
doch die Tiefe dieses Hasses erschütterte ihn zutiefst.
Draußen wütete zwar der Sturm, doch die Luft in der Höhle war noch angespannter.
Auf einmal fragte Asif: "Mr Italian, wie können Sie Berge besteigen mit dieser
Brille? Stört sie dabei nicht?".
"Wisst ihr" murmelte Franco während er die dicke Sehbrille abnahm "ihr seht
diese körperliche Beeinträchtigung als eine Grenze, doch so ist es nicht: Manchmal
ist meine Brille wie ein Bildschirm, der mich beschützt, indem sie hässlichen Dingen
einen Hauch von Irrealität verleiht, andere Male wie ein Vergrößerungsglas, das
mir hilft, die Welt zu verstehen".
Die zwei jungen Männer saßen nebeneinander und schauten ihn bewundernd
an, doch sie waren bemüht, sich nicht zu berühren, als hätten sie Angst, sich irgendeine
übertragbare Krankheit einzufangen. Franco fiel eine Episode aus seiner
Kindheit ein, als seinem Freund Mario verboten wurde, mit ihm zu spielen, weil
er der Sohn eines armen Arbeiters war, und ihm befohlen wurde, sich fortan
Freunde zu suchen, die besser seinem Status entsprachen. Franco konnte das Brennen
der Demütigung noch auf seinen Wangen spüren, und in seinem Mund den Geschmack
eines unsichtbaren, mit Stereotypen und Vorurteilen bestickten Knebels.
NEIN! Das war nicht richtig.
"Jungs", so fing er an "Ihr wurdet getrennt geboren, man hat euch immer gesagt,
die Pakistaner seine böse, und umgekehrt, doch hört auf, an den Kontrastpunkten
festzuhalten und betrachtet eure Gemeinsamkeiten als einen Schatz. Ihr
habt beide olivfarbene Haut, ihr seid Asiaten, ihr seid Männer, ihr respektiert die Familie
und die Alten wie mich… Eure Werte sind ähnlicher, als ihr glaubt. Eure Vergangenheit
ist von Blut und Groll geprägt und niemand kann sie ändern, aber wenn
ihr immer nur das seht, was ihr hinter euch gelassen habt, wie werdet ihr dann je
die schönen Dinge, die vor euch liegen, sehen können?".
In der Höhle war es auf einmal still geworden. Dann sagte Asif: "Der Sturm
dort draußen verschont niemanden, vor ihm sind wir alle gleich".
Suresh antwortete: "Das stimmt, und wenn es etwas gibt, das ich in diesen
Bergen gelernt habe, ist es dass – auch wenn der Weg voller Hürden ist –, wenn man
auf den Gipfel steigt, es ist, als würden dir die Scheuklappen weggenommen und du
bist auf einmal frei. Du schaust nach unten und siehst die Welt, einheitlich, ohne
Unterschiede".
Die zwei schauten sich einen langen Augenblick an, dann mit noch immer
steifen und verklemmten Gesten drückten sie sich die Hand. Sie waren Kämpfer,
mit Blut und Angst gestählt, doch sie hatten begriffen, dass, sich mit Anstand und
Respekt wie Männer entgegenzutreten der einzige Weg war, um zu gewinnen.
Franco war sich bewusst, dass dies nur ein zaghafter Anfang war, es war tief in
ihrem Inneren ein Samen Bewusstsein gekeimt, der sich, wenn er genährt wurde,
in eine wunderschöne Pflanze verwandeln konnte.
Sobald der Sturm sich gelegt hatte, trat der Italiener aus der Höhle heraus,
nahm die Brille ab, und ließ zu, dass die letzten Regentropfen seine Angst wegwuschen.
Suresh beobachtete ihn, und dachte dabei daran, dass Kaschmir ein
wahres Paradies hätte sein können, hätte es die Begierde der Menschen nur nicht
in eine himmlische Hölle verwandelt.
Der Inder war sich schon beim Antritt der Reise über die Existenz vieler körperlicher
und mentaler Grenzen bewusst, doch erst jetzt begriff er, dass nur diejenigen,
die den Mut haben, zu weit zu gehen, an der Grenze entdecken können,
wie weit man tatsächlich gehen kann. Er dachte an seine Tochter und versprach
sich selber, dass er nicht mehr mit ihr schimpfen würde, wenn sie zur Tochter des
muslimischen Händlers am Ende der Strasse spielen ging. Im Gegenteil, er wollte
sie fortan ermuntern, dorthin zu gehen, denn es ist leichter, über Grenzen hinwegzugehen,
wenn man es von klein auf lernt.
Die Träger machten Zeichen, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Suresh und
Asif verabschiedeten sich mit einer Geste. Sie sollten sich nie mehr wieder sehen.
Doch jetzt wussten sie, dass es jenseits der Grenze nicht nur Feinde gab, es gab
dort vor allem Menschen, mit denselben Hoffnungen und denselben Ängsten.