Quinta edizione 2009 • secondo classificato seconda categoria

Ich wollte eine ErzÄhlung schreiben

Chiara San Giuseppe

Chiara San Giuseppe

Sie ist 1961 in Trient geboren, hat Kunstgeschichte in Padua und Siena studiert und sich in diesem Fach spezialisiert. Von leidenschaftlicher Neugier getrieben, hat sie schon immer ein Doppelleben geführt. Sie arbeitet für die Autonome Provinz Trient im Kulturressort: Sie hat sich mit Museen, Volksbräuchen sowie Kulturkommunikation befasst und darüber geschrieben. In ihrer Freizeit erforscht sie hingegen Paradigmen, die zwar inoffiziell, aber viel interessanter sind für diejenigen, die etwas von der Welt und der Seele begreifen wollen, indem sie die symbolischen und spirituellen Inhalte des Verhältnisses zwischen Psyche und Soma sowie zwischen Himmel und Erde erkundet.
Wenn ihr sonst noch Zeit bleibt, schreibt sie Erzählungen, die einige Jurys überzeugt haben.

LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA

"Ich wollte eine Erzählung schreiben" ist ein meta-literarischer Text und gleichzeitig eine Provokation. Die Erzählerin zählt verschiedene Entwürfe für eine mögliche Erzählung auf: Sie hätte weit mehr als eine Geschichte zu erzählen für den Fall, dass sie die Jury eines Literaturpreises beeindrucken wollte (der Krieg, die Flucht aus Afrika, die Auswanderung in ein fremdes Land, die niedersten Arbeiten, sogar die Prostitution). Doch letztendlich verzichtet sie darauf, sie aufzuschreiben, und ihre Erzählung geht über den Verzicht auf das Erzählen. "Ich wollte eine Erzählung schreiben" erinnert uns an etwas, das wir allzu oft zu vergessen neigen, im Zeitalter der Medien und der ständigen Zurschaustellung, in der wir leben: Nämlich, dass es Erfahrungen gibt (Schmerz, Leid), die nicht kommerzialisiert werden können, die man nicht schamlos ausnutzen kann um billige Literatur zu machen. Ist das schon alles? Vielleicht ja, aber das ist nicht wenig.

IL RACCONTO

Ich dachte daran, während ich die zwölf Klos der zweiten Etage putzte. Dieses Geld musste ich auftreiben, es war nicht viel, doch für mich war es wirklich notwendig und stellte ein echtes Problem dar. Ich hätte es lösen können wie immer, aber wenn ich nur daran dachte, wurde mir leicht übel.
Diesmal hätte ich jedoch nicht aufgegeben, es war etwas zu Wichtiges.
Bei der siebten Toilette, während ich hustete wegen der künstlichen giftigen Putzmittel, die uns die Firma lieferte, tauchte wieder der Gedanke an diesen Preis auf. Am Ende, während ich die Papierkörbe im Mülleimer leerte, hatte ich mich entschieden: Ich hätte es versucht, letztendlich war Schreiben eines der vielen Dinge, worin ich wirklich gut war.

Ich nahm die dritte Etage und die dazugehörenden Klos langsamer in Angriff, und betete dabei insgeheim, dass mich die Arbeitskolleginnen nur nicht mit ihrem blöden Geschwätz stören würden, vor allem die launige und im Grunde genommen dumme Jamaikanerin, die mit mir in der Putzkolonne war.
Ich brauchte eine Idee für eine Erzählung und es musste eine erfolgreiche Idee sein.
Ich begriff, dass es sich zwar um sauberes, doch auch sehr unsicheres Geld handelte.
Die Übelkeit der Alternative, sie setzte mein Gehirn in Gang.
Was könnte ich erzählen.
Normalerweise ging ich das Schreiben aus einem unbezwingbaren Drang an, weil ich etwas auszudrücken hatte.
Diesmal war es anders, ich tat es nur für die Knete.
Mir fiel nichts ein. Alles, was ich hatte und was ich sagen wollte, mit dem Verstand und mit dem Herzen, stand in den Seiten meines Beitrags zum Kongress über Darwin in Kapstadt.

Doch mir fehlte noch das Geld für das Flugticket.
Es war schon ein Wunder, dass mein Professor, der sich an meine Diplomarbeit in Geschichte der Biologie erinnerte, mir diese Chance gegeben hatte: Die einzige, nicht zu versäumende, wenn ich – gesund im Kopf – in diesem sonderbaren Land, das Italien heißt, durchhalten wollte, wo ich in einem Zimmer zusammen mit einer anderen Unglücklichen wohne und überlebe, indem ich Treppenhäuser, Büros, Klos, Geschäfte putze, auch fünfzehn Stunden lang, aber noch immer arm und schwarz bleibe.
Wenn ich Geld brauche, meistens für Bücher und diesen Winter für eine Lesebrille – das nächtliche Lernen hat meine Augen ruiniert – gebe ich mich dem Besitzer des Autosalons hin, den ich abends putze.
Es gibt da ein kleines Zimmer mit einer ausziehbaren Couch. Manchmal lädt er auch einen seiner Freunde ein.
Er ist davon überzeugt, er sei ein guter Mensch, so wie alle anderen übrigens, er weiß, dass ich es nur tue, wenn ich wirklich muss, deshalb fragt er mich nicht allzu oft danach und ich kann mich auch verweigern.
Bis vor einigen Jahren war es fast wie ein Kinderspiel, er gab sich mit wenig zufrieden, heute mit diesem verdammten Viagra ist es einfach schrecklich. Diese Weißen, sie fühlen sich nach Leiche an, da hatte meine Oma recht. Außerdem wissen sie nicht, wie man Liebe macht, es gibt da etwas Ungesundes, sie bewegen nicht das Becken und vor allem verehren sie nicht die Frauen. Kurz, sie kotzen mich an.
Doch ich muss nach Kapstadt fahren, deshalb brauche ich eine Idee für eine Erzählung.
Was werden die hier wohl hören wollen.
Der Wettbewerb, über den ich eine Nachricht auf einem Tisch des Büros 52 gelesen hatte, heißt Treffpunkte der Welten.
Aus der Jury kenne ich niemanden, ich habe im Internet nachgeschaut, doch sie scheinen mir nichts Besonderes, alles lokale Typen.
Es gibt kein wirkliches Thema, aber irgendwie wird Multikulturalität angedeutet, sagen wir mal so.
Ich könnte über die verrückte Jamaikanerin schreiben, die mit mir arbeitet, ein halb ernstes, halb komisches Portrait einer Auswandererfamilie, die in die Alpen gezogen ist. Die Grundhandlung: Ein Fremdgehen nach dem anderen, ein Haufen Kinder mit unklarer Vaterschaft, viele Tränen, Geschrei und große Szenen, hier würden sie sagen, auf "neapolitanische" Art.
Ich war noch nie in Neapel, aber es scheint unter den italienischen Städten diejenige zu sein, die der dritten oder vierten Welt am meisten gleicht. Ich müsste demnach der vierten Welt angehören: Das habe ich während meines Italienaufenthaltes gelernt.

Oder aber, ich könnte mich in stark sozial gefärbten Themen versuchen. Eine Art Reportage über die Welt der Unsichtbaren: Wir, die wir die erste Welt putzen.
Italien, betrachtet von einer schwarzen Putzfrau, einer ehemalig illegalen Einwanderin: Geschichten über den ganz normalen bürokratischen, politischen und moralischen Wahnsinn.
Mit ein Paar bissigen Kommentaren über den Stand eurer Demokratie. Vielleicht könnt ihr euch nicht vorstellen, dass ich mit meinen vier Sprachen vielleicht auch die ausländische Presse mit Interesse lese, wenn auch mit einem Monat Verspätung, da es nicht leicht ist, Zeitungen aufzutreiben, doch ich lese und verstehe sie.
Aber wenn ich gewinnen will, ist es besser keine Kritik auszuüben, nicht einmal auf subtile Weise. Ich soll gewitzt, tiefsinnig, sensibel sein, ohne jedoch etwas in Frage zu stellen.

Ich könnte vielleicht von meinem Leben ausgehen, über Afrika schreiben. Doch wie? Ich könnte über das Leben von früher schreiben, aber außer der röteren Erde und der stärkeren Sonne, und der schwärzeren Haut, war es die Normalität einer Familie wie viele, ich denke so ein bisschen wie hier in den Fünfzigern, ich habe mir eure Fernsehserien angeschaut, und ich wüsste nicht, wie ich den afrikanischen Touch reinbringen sollte, den sie vielleicht erwarten. Bevor ich herkam, dachte ich an mich nicht wie an eine Afrikanerin, eine die in Dokumentarfilmen von National Geographic vorkommen kann.
Als Schwarze ja, als Afrikanerin nicht.
Nein, jetzt darf ich nicht weinen: Ich brauche das Geld.
Atme, denke an das Ziel und handle so, als ob du nicht da wärst.

Ich könnte über den Krieg reden.
Nein, kann ich nicht.

Ich könnte über die Flucht reden.
Nein, kann ich nicht.

Ich könnte über die Reise übers Meer reden.
Nein, kann ich nicht.

Ich kann nicht, nicht für einen Erzählwettbewerb, nicht für einen Preis von tausend Euro.

Ich weiß, dass ich es eines Tages werde tun müssen, ich werde jemanden finden müssen, dem ich diese Erinnerung anvertrauen kann: Eine tragische. Ja, was ich erlebt habe – erlebe – ist eine Tragödie.
Ich sage es heute mit einer Ruhe, die mich erschreckt.
Aber es wird eine Zeit kommen, um ihr eine Stimme zu verleihen.
Dann denke ich: "Wenn nicht jetzt, wann?", "Wenn nicht ich, wer?".
Von meiner Familie ist niemand übrig geblieben.
Doch das ist nicht die Gelegenheit, die Scham ist zu groß, es tut zu weh, und außerdem, was wissen die hier denn von der Welt? Diese Stadt scheint mir unter einer Glasblase zu leben, sie sieht aus wie ein Versuch, leblos, simuliert, alles sauber, eine Truman Show im Gebirge.
Auch meine Klos sind fast immer makellos, wie kriegen sie’s wohl hin, immer so dressiert, sogar ihr Rassismus ist gekünstelt.
Was wissen die denn vom menschlichen Wahnsinn, vom Schmerz, der, nachdem er dich an den Rande der Verrücktheit getrieben hat, dich nahezu weise werden lässt, dazu imstande, dich von der Realität zu entfernen, geborgen, in deinen innersten Tiefen, die du nicht kanntest.
Und das alles mit der Eleganz des Igels. Ich will an mich wie an eine Pariser Pförtnerin denken: Tagsüber putze ich, ungesehen, nachts eigne ich mir die großartigen Gedanken dieses großartigen Mannes an: Charles Darwin.
Das einzige, was ich aus meinem echten Leben gerettet hatte, war die französische Erstausgabe von "Reise eines Naturforschers um die Welt", das mir mein Vater zum Universitätsabschluss geschenkt hatte.
Sie wurde mir auf der Flucht geklaut, um ein Feuer anzuzünden. Da habe ich all meine Tränen vergossen. All die, die ich nicht geweint hatte für die Vernichtungen und die Gewalt, die meinem echten Leben ein Ende gesetzt hatten.
Ich bewahre das letzte Foto von Darwin in meinem Tagebuch auf, und kann mich nicht an seinen Augen satt sehen: Es sind die Augen eines Berggorillas, die tiefsinnigsten, ältesten, gutmütigsten und traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.
Man liebt oder hasst ihn für Dinge, die mit ihm nichts zu tun haben, man bedient sich seiner Gedanken, um das Schlimmste zu rechtfertigen oder das Beste zu verleumden. In meinem Beitrag habe ich seine Position über den Rassismus akribisch und – so glaube ich – ein für allemal klären wollen.

Ich muss nur noch den Show Room der Mittelklassewagen putzen, der Boden soll glänzen, damit "die Eigenschaften der Autos hervorgehoben werden", so wurde mir gesagt.
Unter dem ohrenbetäubenden Geräusch der Poliermaschine begreife ich, dass ich gar keine Erzählung schreiben will. Ich werde so tun, wie sonst.
Ich habe viel Schlimmeres überlebt als eine ausklappbare Couch in einem Autosalon.

Ich sitze neben einem Nobelpreis, er ist an meiner Arbeit interessiert und wir haben während des ganzen Mittagessens geredet.
Ich bin sehr schick in meinem neuen Kleid: Diesmal die Eleganz eines farbenfrohen Schwans.
Außer der Fahrkarte wollte ich unbedingt auch ein Kleid und einen Turban, in den Stoffen meines Clans.
Um sie mir leisten zu können, habe ich Dinge tun müssen, die ich sonst ablehne, doch: Augen zu, an das Ziel denken und sich in die tiefste Höhle zurückziehen, so habe ich es geschafft.
Diese drei Tage sind die schönsten in meinem Leben, dieses Leben nach dem echten, versteht sich, weil sie mich ein bisschen daran erinnern.
Ich glaube, es war gut, dass ich nicht an diesem Wettbewerb teilgenommen habe: Diesen weißen Männlein meinen Körper zu verkaufen, das habe ich zu ertragen gelernt, meine Geschichte, mein Herz, meine Verzweiflung und meine Intelligenz der Alpenjury von Treffpunkte der Welten zu verkaufen, das nicht.

12 febbraio 1809