Immer kommen wir dort an, wo wir erwartet werden
Tiziana TomasiniTiziana Tomasini
In Trient geboren, aber mit starken Wurzeln im Karst (ihr aus Pola gebürtiger Vater hat lange in Triest gelebt); sie hat Humanwissenschaften studiert und übt derzeit den Lehrberuf aus. Sie führt bei Schulversammlungen Protokoll und schreibt auch sonst gerne, besonders über Themen, die mit Meer und Schwimmen – ihre großen Leidenschaften – verbunden sind. Sie hat beim Wettbewerb "Storie di donne" den zweiten Platz belegt; sie war unter den zehn Finalisten des von der Provinz Trient geförderten Wettbewerbs "Scrivere la pace", und arbeitet gelegentlich mit einer Lokalzeitung zusammen.
LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA
"Immer kommen wir dort an, wo wir erwartet werden" ist eine Erzählung mit dem Geschmack des Meeres, einer reichen Sprache, präzisen Beschreibungen und vielen Nuancen. Es ist eine schöne Liebesgeschichte im Rhythmus des Meeres selbst. Besonders bemerkenswert sind die Schwimmszenen der Hauptfiguren, die sicher und plastisch geschildert werden. Die Aufteilung, fast in kleine Kapitel, ist außergewöhnlich: Das Haus, die Frau, das Meer, die Schwimmer. Und am Ende der Abschied, der Sprung ins Meer zum "Aufheulen des Schiffs". Eine tiefgehende Erzählung mit einer reifen Perspektive.
IL RACCONTO
DIE LETZTE REISE
Ich werde vor Dir sterben, ich weiß es.
Als Erste, damit alle um mich weinen können. Ich empfinde das Bedürfnis,
vor der gesamten Welt zu sein, in einer dunkelblauen Schachtel
aufgehoben. Meine graue Asche wird drei Tage darin verschlossen sein.
Dann wirst Du mich zur ewigen Freiheit tragen. Ans Meer.
Du wirst die Schachtel an einem grauen Tag öffnen, mit Südostwind,
um 19.00 Uhr, unterhalb des Schlosses von Miramare. Und Du wirst mich
auf diese Weise gehen lassen, den wechselhaften Windungen der salzgetränkten
Luft folgend. Du wirst keine einzige Träne vergießen, denn Du
wirst wissen, dass Du ganz genau meinem dickköpfigen Wunsch nachgekommen
bist. Ich will schon jetzt daran denken, wie Du nach Triest fahren
wirst. Ich sehe dich, rasch und gedankenverloren an dem Tankstellenkiosk,
einen Kaffee im Stehen, Du fährst schell wieder los. Telepass. Hier sind wir
nun. Die ersten Ampeln, die imposanten, mit Stadtdreck überzogenen Gebäude,
die Werbetafeln. Rechts, die Steinmauer, die den Gärten entlang
verläuft, ich bin angekommen. Hier sollte ich geboren werden, ich habe
nicht wählen können. Doch diesmal habe ich gewählt. Während ich
schwebe, leicht, nehme ich eine Geschichte mit mir mit. Eine Huldigung
an die Unendlichkeit.
SIE
Die Tür des heruntergekommenen Hauses schaut direkt auf die gerade
Strasse, nach römischem Grundriss. Eine von vielen. Das vom aggressiven
Duft des Meeres oxidierte Schloss schließt eine Welt aus, die von Zitronen
und Zikaden, Jasminblüten und Jahrhunderte alten, vom Borawind gekrümmten
Pinien, getränkt ist.
Die beständige Sommersonne wird verbannt, sobald man die Schwelle
übertritt. Im Halbschatten kneife ich die Augen und strecke die Hände
nach vorne aus, um mich vor der Dunkelheit zu schützen. Nachdem ich
eine von der Zeit verblichene Gardine beiseite schiebe, erkenne ich die
Armut und Einfachheit eines ganzen Lebens wieder. Ein einziges Zimmer.
In der Mitte steht ein massiver, grober Tisch. Er ist mit einer abwaschbaren
Tischdecke mit unerkennbarem Muster bedeckt, um die Hässlichkeit
der Welt zu verdecken. Darauf liegt eine gehäkelte Überdecke, vergilbt,
aber noch immer sauber und elegant.
So elegant wie sie. In ihrem Alter und in ihrer unvollkommenen, von
der Zeit veränderten Schönheit, gefällt sie mir.
Zierlich, breite Schultern, gerader Rücken, rebellisches Haar und
schmale Nase. Sie glättet den Schal wie eine Katze, um die Feuchtigkeit
zu vertreiben, und streckt die knochigen Hände mit dicken, gut gepflegten
Fingernägeln aus. Das rote Päckchen mit den amerikanischen Zigaretten
liegt auf dem Tisch. Lang, wohlriechend, einladend. Die griffbereite
Sünde… Der Rauch steigt kegelförmig und regelmäßig aus ihrem faltigen
Mund. Dann verbreitet er sich im Raum in rhythmischen Zirkeln, tönt alles
ab und taucht auf wundersame Weise alles in eine hellblaue Farbe. Stille.
Beim zweiten Zug beginnt sie zu erzählen. Die regelmäßige Tonlage,
dunkel aber entschlossen, von jemandem, der hat handeln, sich verausgaben,
leiden müssen. Auch aus Liebe.
DER SINN DES LEBENS
Das Leben ist ein Sternenfragment, das leicht im grenzenlosen Universum
umherschweift.
Ein Luftbläschen, das eine wellenförmige Bahn im kristallblauen Wasser
zeichnet. Ein Fragment von einem Himmelkörper, das ein Luftbläschen
sucht. Zum Atmen, zum Fliegen.
DAS MEER
Sie hat nie schwimmen gelernt. Sie schwimmt einfach und Ende. Sie
geht aus dem Haus und sieht nur das Meer. Und sie fühlt es auch in sich,
überheblich und unzähmbar, unverschämt und rhythmisch, nie gleich. Sie
ist das Meer, und das Meer nimmt alles und jeden auf. Es schwebt in der
Luft, prägt seinen Duft in die Kleider ein, überzieht die Häuser, verleiht
dem Wasser seinen Geschmack, füllt die Ohren.
Wie bei einem wilden Tier wittert man seine Anwesenheit, immer.
DIE SCHWIMMER
Ein Meeresarm zwischen zwei Felsvorsprüngen, ein Paar verblasste und
schwankende Bojen, die eine imaginäre Grenze schaffen. 50 Meter oder
wenig mehr.
Ein echtes Paradies für leidenschaftliche Schwimmer, die in jeder Saison
hier eintreffen, um zu trainieren. Der felsige Strand. Und dahinter ein
Haufen heute nutzloser, im Pinienwald liegen gelassener Fahrräder. Sie
breiten die in den Körben zusammengefalteten Badetücher aus; in den
Händen die Badehauben mit Riemchen, die gestreiften Badeanzüge. Sie
kennen sich alle, wie sie hier und da über den Strand verteilt sind, zumindest
kennen sich viele untereinander. Sie gestikulieren und mimen
dabei die Armbewegungen, und messen die Kraft ab, die sie gegen das
Meer anwenden müssen. Die große Herausforderung liegt dort, vor ihnen.
Und sie, Seelöwen ähnlich, verweilen wie durch einen Zauber, um jenem
dunklen Meer zu lauschen, bereit, loszustarten. Ein Paar Felsen, einige
Felsspitzen für die Sprünge ins Wasser, die stets verbessert werden können.
Das Alter zählt nicht. Jung oder weniger jung, man muss mutig und
unternehmungslustig sein. Das Salz prickelt auf den Lippen, durchdringt
die Nasenschleimhaut, trocknet die Haare aus. Das Meer unterbricht den
Rhythmus, bestimmt ihn. Doch es macht nichts. Jeden Tag wird geschwommen.
Schwimmstösse je nach Welle, ins Meer eintreten und es
zähmen, ihm mit der Kraft von Händen und Füßen nachgeben. Man startet
und wendet bei der Boje oder an den Südostfelsen, die flach und von
den Wogen poliert sind.
DIE ABFAHRT Das rote Fahrrad des Großvaters quietscht bei jedem Kurbeltritt gereizt. Sie umklammert auf naive Weise das Lenkrad, um schneller zu sein, um früher anzukommen. Und um die Spannungen loszuwerden, das Weinen und die Launen der Kinder. Nur an jenem Fleck Land und Meer findet sie sich selbst wieder. Eine Art Freizone, eine unübergrenzbare, wo nur ihr allein Eintritt gewährt ist. Ihr und wenigen anderen. Ihr und einem anderen.
DER STRANDWART
Der Strandwart überwacht achtsam von seiner Stellung aus, oder rudert
im Stehen auf dem roten Rettungsboot. Er kennt sie. Er reicht ihr
die Hand und erklärt ihr das Meer an dem Tag, die Windrichtung, die anzuwendende
Schwimmtechnik.
Natürlich kennt er auch ihn. Manchmal, außerhalb der Arbeitszeit,
schwimmen sie alle drei und loben sich gegenseitig. Sie machen auch ihr
Komplimente. Sie lächelt vom Felsen aus und bereitet sich auf den Eingang
ins Wasser vor.
UNTEN
Er und sie treffen sich unten. Ein Blick, Fragmente eines Atemzugs.
Sich kreuzende Blicke, den Arm ausgestreckt, darauf vorbereitet, wieder
aufzutauchen. Die Bläschen steigen aus den Nasen und vermischen sich…
sie erkennen sich, sie verflechten sich.
Die Füße bewegen sich rhythmisch wie Flossen, die seinen groß und
stark, ihre hingegen schlank und energisch. Sie können nicht fern vom
Wasser sein, es ist eine unwiderstehliche Versuchung.
Sie können sich nicht fern sein.
Sie winken sich mit der Hand zu, wie Kinder. Oder mit einem Lächeln,
wenig mehr und los geht’s, hinunter.
Unten, die dunkle Taucherbrille, unten, zwei Augen blau wie das Meer
am Morgen; unten, zwei Augen golden wie der goldene Abendsand, der
den Reflex des Meeres einfängt und sich aneignet.
IHRE LEBEN
Er arbeitet in der Werft, er ist jünger als sie.
Sie leitet einen Kindergarten, sie ist älter als er.
Sie ist nicht wunderschön, doch sie zieht Blicke an, seine Blicke.
Er ist bildschön.
Er ist schwer. Er setzt auf seine Kraft. Seine Armstöße zerreißen, sie
sind kraftvoll.
Sie tanzt auf dem Wasser, schmiegt sich an die Wellen, sicher und
schnell.
Jeder hat sein eigenes Leben.
Sie ihre Familie, er seine Verlobte. Mit den alltäglichen Freuden und
Schwierigkeiten, die unvermeidbar damit einhergehen. Doch wenn sie an
diesem Meeresfleck sind, lassen sie alles hinter sich, alles ist erlaubt.
Denn das ist es, was das Meer fordert. Den höchsten Einsatz und eine absolute Hingabe,
ein vollständiges Eintauchen, sowohl mit dem Körper als
auch mit dem Verstand. Und diese metaphysische Hingabe durchdringt jeden.
Auch ihn.
Auch sie.
Die Ankunft am Strand erfolgt mit nach vorne ausgestreckten Armen,
um die Welle vorteilhaft auszunutzen. Die noch angespannten Bauchmuskeln
streifen den Meeresgrund. Eine Rückwärtstolle, und es geht wieder
los. Atemholen.
IHR LEBEN
Du bist gut, Dir fehlt nichts.
Auch Du bist gut, der beste.
Lächeln.
Sie hat langes, ungezähmtes Haar. Er möchte es gerne streicheln, vom
Nacken aufwärts.
Er hat breite Schultern von der Arbeit am Meer. Sie würde gerne auf
diese Schultern steigen und rückwärts springen. Sie haben dieselbe Leidenschaft,
und sie schätzen sich deshalb.
Wie viele hübsche Mädchen beobachten die Schwimmer, doch ihn interessiert
diejenige, die dort unten ist, mit den breiten und zarten Schultern,
den hellblauen Augen des Meeres beim Sonnenuntergang.
Die Sonne löscht die Konturen aus und erhellt hingegen dreist die versunkene
Welt. Dort, wo man nicht mehr Fuß fasst, ist alles klarer. Und
vielsagender.
Sie hat ihn einmal berührt. Die Fußspitze gegen seinen Schenkel.
Einen Augenblick.
Dann ist sie aus dem Wasser rausgegangen, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Sie ist fast weggelaufen. Sie kann nicht bleiben. Sie muss zu
ihrem Leben zurück. Der Zauber muss ein Ende finden, ist zu Ende. Es war
ein Augenblick. Zuviel. An einem Nachmittag hat er sie auf dem Fahrrad
gesehen. Der flatternde Rock, die Haare zerzaust vom Wind.
Auch sie hat ihn gesehen. Auf dem Motorrad, der Lederhelm, die dicke
Motorradbrille aus dem Grossen Krieg.
Ihre Blicke haben sich einen Augenblick lang gekreuzt. Wie unten.
Mit der selben Wirkung.
DER TRAUM
Um ein Uhr Nachmittags ist der Pinienwald menschenleer. Alle sind im
Meer oder auf der Zementplatte, um sich von den Anstrengungen zu erholen.
Dort hinten, zwischen den letzten Strandkiefern, ein rotes Badelaken
und ein Lederhelm, einfach liegengelassen.
Und sie beide, ebenfalls vollkommen losgelöst.
Das rhythmische Geräusch des Meeres begleitet sie, abwechselnd zart
und wild.
Sie wissen, dass sie nichts verlangen können, alles ist für sie schon
vorgesehen.
Sie haben keine Zukunft, nur Gegenwart.
DIE ABREISE
An dem Tag bläst der Mistral.
Der Dampfer ITALIA ist bereit, den Anker zu lichten. Die letzten Manöver
an Land, die üblichen Signale, alles in Ordnung. An Bord auch ein
Rucksack mit den persönlichen Gegenständen, die große Motorradbrille,
eine Badehaube, die Badehose.
Er blickt zum letzten Mal auf diesen Meeresarm. Auf der anderen Seite
der Küste hat er eine einmalige Möglichkeit, er kann sie nicht aufs Spiel
setzen. Seine ganze Kraft konzentriert sich in diesen Worten…er kann sie
nicht aufs Spiel setzen.
Sie ist von einem Schauder durchzogen, das Wasser an dem Tag ist
kalt und hart, doch sie kann es schaffen, sie kann die Boje erreichen. Als
das Schiff aufheult, springt sie hinein.
SIE
Die Zigarette ist zu Ende, in einen Blechdeckel gedrückt siecht sie dahin.
Ich warte auf ein Ende, ein Schlusswort.
Meinen fragenden Blick erwidert sie mit ihrem vielsagenden Schweigen.
Sie nimmt auf diese Weise von mir Abschied, wickelt sich den Schal
um die immer noch breiten Schultern, und verbirgt so ein tiefes, nie mehr
offenbartes Geheimnis.