Die Nani vom Col delle Benne
Rudy BofRudy Bof
Die Erzählung wurde von den Schülern der 2. Klasse B, Fachausbildung für Friseure, Berufsschule Opera Armida Barelli in Levico Terme (TN) gemeinsam geschrieben. Für die Arbeit wurden unveröffentlichtes, von der Hauptfigur geliefertes Material sowie Aussagen von zwei ihrer Enkelkinder verwendet. Rudy Bof ist der Klassensprecher.
LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA
Ein „in lebendige Erinnerung verwandelter Schmerz“. Auf einem Hügel in der Bergwelt des Trentin erinnert sich die Nani an ihren im ersten Weltkrieg in Galizien gefallenen Mann. In ihre Geschichte, die eine nie vergehende Liebe vermittelt, fließen größere (die Ermordung des Erzherzogs in Sarajewo) und kleinere Geschehnisse (in den Wäldern nach Pilzen und Himbeeren suchen) ein. Die Parabel eines Lebens im Zeichen einer starken Spiritualität findet in der glücklichen, authentisch volkstümlichen Erzählweise ihre Vollendung.
IL RACCONTO
Ich mag es, am späten Nachmittag hier so zu sitzen, ganz ruhig auf dem Mäuerchen des Gemüsegartens, und die Strahlen der Sonne zu genießen, die bald untergeht, dort hinter der Vigolana. Mittlerweile haben ihre Strahlen die sengende Kraft der Mittagszeit verloren, wenn der Hügel einem Backofen gleicht, und sie küssen jetzt sanft die faltige Haut meines Gesichts und meiner Hände, umhüllen meinen Altfrauenkörper mit einer wohligen Wärme. Jetzt kommt vom See eine leichte Brise herauf, die mir die schon ergrauten Haare, die im Nacken mit Hornnadeln gut festgesteckt sind, streichelt und sich stark von dem eiskalten, tobenden Wind unterscheidet, der übers Land fegte, als ich als Flüchtling in Mähren war. Von jenseits der Wälder, die sich östlich des Hügels erstrecken, höre ich in der Ferne, wie die Glocken meiner Kirche in Levico das Ave Maria spielen. Ich bete dann laut dieses Gebet, so wie ich es mit meiner Mutter in unserem Haus in der Via delle Fosse gemacht habe, und lege mein Leben, das allmählich auf sein Ende zugeht, in die Hände des Herrn. Welches Vertrauen hatte Mama Maria doch in ihre göttliche Vorsehung! Meine Familie besaß kein Land, und manchmal gab es zum Mittagessen nichts, was man hätte auftischen können: Dann öffnete Mutter, die Näherin war, das Fenster, und wartete darauf, dass einer ihrer Kunden mit ein paar Pfund gelbem Mehl oder Bohnen, einem Sack Kartoffeln oder einem Körbchen Eier vorbeikam, um seine Schulden zu begleichen. Und das geschah dann tatsächlich!
Jetzt schauen meine weit geöffneten Augen, die noch immer wach und neugierig sind, in die Natur, die mich umgibt und mich wie immer, wenn ich sie betrachte, mit einem dankbaren Staunen erfüllt, sodass ich mich dabei ertappe, laut auszurufen: Wie schön ist doch die Welt, und wie groß ist Gott! Vor mir, jenseits der feuchten Ebene, durch welche die Brandau fließt und wo sich Kartoffel – und Maisfelder aneinander reihen, mache ich den Rand der Hochebene aus, aus der die Familie meines Mannes Momi (Girolamo) Mosele herstammen soll, deren Mitglieder noch heute die „Vezzena“ genannt werden. Der Name bezeichnet auf jeden Fall ein Geschlecht von „Roncadori“, Holzfällern und Landwirten, die irgendwann den Colle delle Benne erreichten, um das Land urbar zu machen und trockenzulegen, und dem Eichen – und Akazienwald einen Flecken Land wegzunehmen, auf den sie den bescheidenen Hof bauten, auf dem ich noch heute wohne.
Mein Momi hat mich gleich nach der Hochzeit hierher gebracht, an einem Tag wie diesem, dem 17. September 1904. Wir waren jung – beide Jahrgang 1882 – verliebt und fest entschlossen, wie uns unser guter Erzpriester ans Herz gelegt hatte, uns wie gute Ehegatten zu verhalten, gemeinsam den Wagen unseres Lebens unter demselben Joch auf allen Wegen, die für uns vorgesehen waren, zu ziehen. Noch wussten wir nicht, ob diese steil sein würden wie der gewundene Pfad, der von unserem Hügel aus über San Biagio nach Levico führt, oder ob die göttliche Vorsehung uns gestatten würde, einen bequemeren Weg einzuschlagen, als den, der von hier aus nach Visintainer und Pergine runterführt. Einst war dieser Weg immer gut in Stand gehalten, da er benutzt wurde, um die Festung zu beliefern, die sich hinter meinem Rücken erhebt. Man braucht nur ans oberste Ende des Gemüsegartens zu laufen, um sie zu sehen, mit ihrem noch fast intakten polygonalen Grundriss, auch wenn ihr heute die Eisenstrukturen abhanden gekommen sind. Sie wurde einige Jahre vor meiner Geburt errichtet, zusammen mit der Festung von Tenna, die ich dort drüben auf dem Hügel mir gegenüber ausmache, jenseits des Sees, der das Suganatal zangenförmig einschließt und die Straße nach Trient versperrt. Wir Bewohner des Mosele Hofs pflegten gut nachbarschaftliche Beziehungen zu den Soldaten der Festung. Eine Schwester meines Mannes verliebte sich sogar in einen österreichischen Offizier, heiratete ihn schlussendlich trotz des Widerstandes meines Schwiegervaters, und zog mit ihm nach österreich. Im übrigen waren wir ja doch alle treue Untertanen unseres guten Regenten, Kaiser Franz Josef, der uns ein strenger, aber gerechter Herrscher war. Sicherlich war es auf jeden Fall besser, wenn man nicht im Protokollbuch des Unteroffiziers Scheibenflucht landete, der Chef der Gendarmeriestation in Levico war. Darin aufgelistet waren zweifellos die wenigen „Studierten“, die sich mit der Margeritenblüte im Knopfloch in der Apotheke des Doktors Giovanni Amort trafen und die alle in die Nationale Liga eingetragen waren, die das Trentin Italien angliedern wollte. Aber mein Momi behauptete, das italienische Reich sei von Freimaurern regiert, die keine Schulen für die Kinder der armen Leute bauten und die bedürftigen Bauern mit zu vielen Steuern belasteten.
Armer Momi, wie glücklich war er an jenem Sonntag, dem 28. Juni 1914! Es war die Nacht vor St. Peter und wir waren mit unseren Söhnen Carlo und Pierotto in Centa gewesen, wo wir einen frohen Tag in guter Gesellschaft verbracht hatten. Auf dem Rückweg stützte ich mich auf seinen starken Arm, und sagte ihm, dass wir wahrlich kein schweres Kreuz zu tragen hatten, unsere Verwandten sprachen nun gerne mit uns, wir waren wohlauf, liebten und respektierten uns stets gegenseitig, die Kinder waren gesund und munter, die Felder versprachen eine gute Ernte. Aber man sagt nicht zu unrecht, dass, wer die Rechnung ohne den Wirt macht, sie doppelt zahlen muss. Sobald wir nämlich ins Haus meiner Eltern gelangten, erfuhren wir, dass das Erzherzogspaar in Sarajewo ermordet worden war. Das in der Alten Anlage geplante Konzert wurde abgesagt und in Levico sprachen alle über dieses grauenhafte Verbrechen. Als wir auf den Hügel zurückkehrten, sagte Momi, dass diese Tragödie ein Vorbote des Krieges sei, und leider sollte er Recht behalten. Am 27. Juli hörte man in Levico Böller, die Ausländer, die Hurra und die Italiener, die Hoch lebe Italien und österreich, vereint, um das heimtückische Serbien zu bekämpfen riefen. Am 5. August verliest man in den Dörfern die schicksalsträchtige Kundmachung, dass alle Männer über zwanzig und unter zweiundvierzig sich bei der Armee melden müssen. Welch ein Schmerz das für mich war, lässt sich leichter nachempfinden als beschreiben. Ich erinnere mich daran, dass ich oft weinte, und dies vor meinem Mann geheim hielt, während ich mich in seiner Anwesenheit bemühte, stark zu sein und auf diese Weise zumindest ihm half, sich in sein Schicksal zu fügen. Armer Momi, wie sollte es ihm ergehen, getrennt von seinen Liebsten, gerade er, der er so sehr den familiären Frieden genoss und im Kreise seiner jungen Familie jeglichen Halt fand! Am Morgen des nächsten Tages gingen wir zusammen zur Beichte und Kommunion, der eine, um gesegnet zu werden, und die andere, um ihren Ehemann Gott anzuvertrauen und ihn zu bitten, er möge ihn ihr wieder zurückbringen. Wir verabschiedeten uns rasch von meinen Brüdern, die ebenfalls in den Krieg zogen, dann kehrten wir auf den Hügel zurück. Beim Frühstück freute sich Momi, mich so mutig zu sehen. Dann bereitete ich ihm alles Notwendige zum Mitnehmen vor, doch er wollte nichts, nicht einmal Wäsche zum Wechseln, weil er auf eine baldige Rückkehr hoffte. Um sieben Uhr fuhr er nach Pergine los, danach weiter nach Brixen. Ich war stark, wollte ich doch nicht in seiner Anwesenheit weinen, doch nur Gott kann mir diese Gnade erwiesen haben. In den darauf folgenden Tagen erhielt ich seine ersten Karten, dann einen schönen Brief und am Tag des heiligen Rochus eine Karte mit einem Stempel, der mir Auskunft darüber gab, dass er nach Galizien gezogen war. Dann kamen keine Briefe mehr, und so sandte ich selbst einen, um von uns zu erzählen, aber er kam nach zwei Monaten zurück. Danach nichts, und wieder nichts! Und ich trug weiter das schwere Holz des Kreuzes, das Gott mir auferlegt hatte. Ich musste mich um den alten Schwiegervater kümmern, an meine kleinen Kinder denken und an jenes, das ich unterm Herzen trug. Dank meiner Kenntnisse der deutschen Sprache, die ich als junges Mädchen während meiner Arbeit als Magd in österreich erlernt hatte, ging ich zu den Offizieren der Festung und bot mich an, die Wäsche der Soldaten zu waschen. Um dies zu tun, musste ich zum Lazzaretti Hof laufen, einen halben Kilometer ostwärts, wo es eine Quelle gab, da wir zu Hause weder Wasser noch Strom hatten. Aber dann kam der Winter und auch dieses Bächlein fror gleich meinem Herzen zu. Am 2. Dezember wurde indessen mein letztes Kind geboren, ein Junge, der zwei Tage später auf den Namen Tullio getauft wurde. Ich hatte acht Kinder bekommen, aber die Zwillinge waren einer kurz nach dem anderen gestorben, bevor sie ein Jahr alt wurden. Am 19. März '15, als der Frühling bereits den ganzen Hügel mit zartem jungen Blattwerk kleidete, erkrankte der kleine Wonneproppen Elda, und am 6. April hatte sie ihr Leben schon ausgehaucht! Arme Kleine, sagte ich zu ihr, als ich ihre schon erkaltete Stirn küsste, bete wenigstens für deinen Papa, dass Gott ihn gesund und munter seiner Frau und seinen Kindern zurückgebe. Und so wurde mein Kreuz schwerer und glich immer mehr demjenigen, das sie jetzt da oben angebracht haben, an der Spitze der Pizzo Festung. Sie wurde gerade in jenen Monaten fertig gestellt, damit sie wie ein riesiges Auge sowohl das Gebiet der Hochebenen als auch das obere Suganatal überwache, das sie kühn von einem Felsvorsprung emporragend überblickt. Damals beunruhigte mich dieser Anblick, an den ich mich mittlerweile gewöhnt habe, ebenso wie mich das ganze fieberhafte Treiben um die Festungen herum beunruhigte. Auch hier an der Festung des Colle delle Benne wurden in die Erde geschlagene Drahtverhaue verstärkt, der Wald gesäubert und aus den Haselnussbäumen Holzbalken geschnitten, um daraus Eindämmungsgürtel herzustellen. überall wurden Drahtverhaue installiert und Schützengräben ausgehoben, um die Festungen miteinander zu verbinden. Einer dieser Gräben verlief vom Tenna Hügel bis hier an den See herunter, der mittels eines Stahlseils versperrt wurde, dann zog er sich wieder durch die Weinberge über die Canzana bis zum Selvot hinauf. Auch in der Nähe der Panarotta verkehrten ständig Fahrzeuge mit Material, um diesen Gipfel zu befestigen, so wie auch in der Nähe des anderen, weiter entfernten Gipfels, des Fravort. Immer öfter sprach man über eine bevorstehende Kriegserklärung an Italien, doch ich wollte nicht daran glauben, es schien mir unmöglich, dass Italien eines solchen Verrats schuldig werden könne. Doch am Abend des 23. Mai wurden all meine Illusionen zerstört; wir waren in der Kirche, um den Gottesdienst zu Ehren der Heiligen Jungfrau zu feiern, als unser Hauptgendarm eilig in die Sakristei lief und mit unserem Erzpriester redete. Dieser informierte uns kurz darauf, dass Italien der Krieg erklärt worden war. In jener Nacht machte ich kein Auge zu, auch wenn kein einziger Schuss fiel, ebenso wenig wie am Tag darauf. Doch am 24. Mai wurden wir um halb vier alle aus dem Bett gerissen durch das Getöse der Bomben, die von der Festung Verena aus in die Richtung der Festung Pizzo geworfen wurden, und die, das Ziel verfehlend, weit jenseits der Brandau landeten, zwischen dem Bahnhof und dem Ortsteil Santa Giuliana. In den folgenden Tagen erreichte uns der Befehl, den Mosele Hof sofort zu verlassen. Aber wie hätte ich meinen geliebten Hügel verlassen können, unser weißes, ins Frühlingsgrün gebettetes Häuschen, das ich so liebte, den schönen Gemüsegarten, die so vielversprechenden Felder! Und doch musste ich mich von den süßen Erinnerungen und den glücklichen Tagen trennen, die ich mit meinem lieben Momi hier verbracht hatte. Und es genügte nicht, dass wir weg mussten, mir wurde auch gesagt, dass sie unser Haus sprengen mussten, denn es konnte einen Anhaltspunkt für den Feind darstellen. Mit Hilfe meiner Schwester Amelia packte ich ein paar Sachen ein, jedoch genauso übereilig, als ob man vorm Feuer flüchtet. Dann brach man auf, mit den Kindern und dem Zicklein, während die Kuh schon voraus geschickt worden war. Es nieselte und wir schienen das Sinnbild der Verzweiflung. Es war schon Nacht, als wir Pergine erreichten, wo wir von der Familie Andreatta barmherzig aufgenommen und auch in den nächsten Tagen beherbergt wurden. Der Ort wimmelte von armen Vertriebenen, die ihre Häuser wegen des Krieges hatten verlassen müssen. In der Nähe der Spinnerei tummelte sich eine Unmenge an Kühen, Eseln, Schafen, Pferden und Ochsen, die zu Hungerpreisen von den Bauern der Gegend gekauft oder vom Militär beschlagnahmt wurden. An Fronleichnam höre ich wie jemand von der Straße aus meinen Namen ruft, ich schaue aus dem Fenster und es bietet sich mir ein herzzerreißendes Bild! Ein Karren, darauf mehrere Koffer und ein Bett mit einem Mitleid erweckenden Kranken. Diejenigen, die ihn hinter sich her zogen, waren vollkommen aufgelöste junge Frauen und eine Alte: meine Mutter und meine Schwestern und oben drauf mein Vater, den sie am Vorabend aus dem Krankenhaus geholt hatten. Sie erzählten mir, dass in Levico ein Gendarm von Haus zu Haus gezogen war und befohlen hatte, binnen vierundzwanzig Stunden aufzubrechen, und nur das Allernötigste mitzunehmen, höchstens zwanzig Pfund insgesamt, da der Krieg in drei, vier Wochen beendet sein würde, die Zeit, die man brauchte, um Italien das Rückgrat zu brechen. Wer ohne Erlaubnis im Dorf blieb, riskierte, erschossen zu werden. Als sie losfuhren, hörte man hinter dem Pizzo schon Kanonenschüsse, und gleichzeitig besetzten die Soldaten das Dorf mit Wagen und Pferden. Entlang der Straße nach Pergine sah man einen Strom leidender Menschen, jeder mit seinem Tragekorb auf den Schultern und einem Korb oder einem Kochtopf voller Mehl oder Käse in der Hand. Ich war froh, mich wieder meiner Familie anschließen zu können und am nächsten Tag, dem 4. Juni, traten wir zusammen die Reise ins Exil an. Um halb zwei fuhren wir mit einem übelriechenden, dunklen, kalten Güterzug, voll gestopft mit Vertriebenen, vom Bahnhof in Pergine ab. Wir konnten uns nirgendwohin setzen, außer auf unsere Bündel. Um sechs Uhr abends erreichten wir Bozen, wo wir eine gut schmeckende Suppe bekamen. Am Tag darauf boten sie uns am Innsbrucker Bahnhof Tee an, ein Getränk, das nur wenige von uns kannten. Am Samstagabend stiegen wir endlich in Salzburg aus, um in Baracken zu schlafen. An diesem Bahnhof kamen alle Güterzüge aus Südtirol an, und hier wurden die Flüchtlinge aufgeteilt. Wir fuhren weiter nach Mähren, wo jeder von uns an seinem Bestimmungsort ausstieg; wir wurden der Stadt Olmütz zugeteilt. Heute noch verdirbt mir die Erinnerung an jene dramatische Reise in diesem ratternden Zug die Freude am Schauspiel, das sich mir bietet, wenn ich dort unten in der Ebene, die sich von Levico nach Caldonazzo ausbreitet, die großen Lokomotiven vorbeifahren sehe, die lustig pfeifen und ihre Rauchfahne in den Himmel stoßen. Ich muss immer wieder an diesen ratternden Zug denken, der den „Mose“, den Brei aus eingeweichter Polenta und Milch meines kleinen Tullio, so oft umwarf. Der Kleine war nur durch Zufall noch am Leben, nachdem eine inmitten des Waggons angebrachte schwere Lampe sich von der Decke gelöst hatte und ihm auf das Köpfchen gefallen war. Ich kann mich noch erinnern, wie ich ihn in den darauf folgenden Monaten in den Schlaf wiegte und diesen Reim vorsummte: «Welch' Strafe für mein' armen Spatz / mitten im Waggon die schwere Laterne / fällt mit Karacho auf seinen Platz / schmerzt ihm nun sehr die Birne / Tullietto mein Kleiner bist zu Recht verstimmt / doch die böse Beule heilt ganz bestimmt!».
Am Bahnhof standen schon die Wagen bereit, die uns in die Dörfer auf dem Land bringen sollten, mit seinen niedrigen Häusern und den Reetdächern. Wir wurden in Kellern, Treppenhäusern, Hühnerställen, Hütten oder verlassenen Warenlagern untergebracht. Wir kamen müde, dreckig und schlecht angezogen an, und hinterließen sofort einen schlechten Eindruck, wir wurden schlechter als die Zigeuner angesehen. Im Grunde genommen, waren wir für die Mährer Fremde, womöglich sogar für den Verrat Italiens verantwortliche Umstürzler, die sie die Regierung aufzunehmen verpflichtete. Nur das Zusammenleben und die Aufforderungen der Priester zur christlichen Brüderlichkeit ließen uns die gegenseitigen Vorurteile mit der Zeit überwinden. Als mein neunjähriger Sohn Carlo sich in der Kirche mit den Kindern stritt, weil sie ihn „Drecksitaliener“ genannt hatten, war es ausgerechnet der mährische Priester, der ihn verteidigte. Die Kinder lernten die neue Sprache, dieses „Kauderwelsch“, wie wir es nannten, sehr schnell, während sie mir seltsam und schwierig vorkam und ich Mühe hatte, sie zu verstehen, genauso wie ich Mühe hatte, mich an das Leben in Mähren zu gewöhnen. Mich erdrückte der Schmerz, weit weg von meinen Bergen zu sein, und was noch mehr schmerzte, war, nichts über meinen Mann zu wissen. Seit dem 9. August hatte ich nach Wien und Brixen geschrieben, um etwas zu erfahren, aber die Antwort blieb unverändert: kein Bescheid. Sonntags in der Kirche betete ich zum Höchsten, er möge meinen Liebsten beschützen und mir Nachrichten über ihn zukommen lassen. Und ich war überzeugt, dass auch Momi für seine liebe Ehefrau und junge Familie betete, und dass mir nur diese Gebete so viel Kraft und Mut gaben. Sie schenkten mir die Kraft, soviel Leid zu ertragen. Doch wie viele Tränen vergoss ich in der Kirche, wenn ich diese schönen Gesänge hörte und mir unter den fremden Blicken wie eine Außenseiterin vorkam! Die mährischen Frauen kamen in schönen, blumenbestickten, weißen, hellblauen, lilafarbenen Kleidern zur Sonntagsmesse und glichen mit ihren seidenen Kopftüchern einem Blumenbeet. Ich trug ärmliche Kleider und machte mich ganz klein, doch dann dachte ich an den Gott der Liebe, den Gott des Friedens, den Gott, der mich während meines harten Exils begleitete und so gab ich mich voll Vertrauen der göttlichen Vorsehung hin, wie es mich Mutter gelehrt hatte, und wie ich es auch heute als alte Frau noch mache, wenn ich hier auf dem Mäuerchen meines Gemüsegartens sitze, unter diesem großen Pflaumenbaum. Es ist die Vorsehung, die im Frühjahr auf seinen ästen die Knospen erblühen und im Sommer die Pflaumen wachsen lässt, die beim Reifen ihre Bitterkeit in Süße umwandeln. Wie viele Pflaumenbäume es doch in Mähren gab! Man sah sie überall, entlang der Straßen sowie um Beete und Häuser herum. Die Pflaumen wurden entweder frisch verkauft, um Marmeladen herzustellen, oder getrocknet an die Konditoreien zum Kuchen backen, oder an die Restaurants zum Knödel machen abgegeben. Sicher, mit dem mageren Flüchtlingsbeitrag konnten wir keine Konditorei besuchen und auch nicht im Restaurant essen! Wir hatten einen solchen Hunger, dass unsere Kinder manchmal in den Kellern nach Rattenfallen mit einem Stückchen Speck suchten und es aufaßen, oder in Misthaufen rumwühlten, um die Gemüsereste zu sammeln, die die ortsansässigen Familien wegwarfen. Die Jungs gingen auf die Felder und sammelten ähren, vergessene Maiskolben, hängengelassene Früchte, ein paar Bohnenschoten oder die Rüben, die zu klein waren, um verkauft zu werden, oder sie suchten in den Wäldern nach Pilzen, Himbeeren, Brombeeren, Erdbeeren und Heidelbeeren, die auf dem Markt oder an Läden verkauft werden konnten. In den Gräben, die die Felder wie tiefe Furchen durchzogen, fingen sie Frösche, jedoch heimlich, da sie Privatbesitz waren. Mähren war ein fruchtbares Land, wo überall Gerste, Roggen, Zuckerrüben, Kartoffeln, Gemüse angebaut und Obstbäume gezüchtet wurden. Es gab außerdem Felder mit schönem lilafarbenem Mohn, um Morphium herzustellen, nicht enden wollende Felder mit Hopfen, um Bier herzustellen, und genauso weit gedehnte, mit Kornblumen durchsetzte Felder voller Weizen, um Brot zu backen. Um die Häuser herum waren auch viele Nussbäume, aus deren Nüssen man das öl zum Anrichten gewann. Auf der Tenne gab es Kühe, Pferde, Schweine und in den Teichen Hunderte von Enten und kleinen Gänsen, so viele, dass um diese Wasserspiegel herum alles weiß war. Bald merkten wir, dass es an Arbeit nicht mangelte, da die Jugend und die Männer mittleren Alters an die Front geschickt worden waren und in den Dörfern nur Alte und Behinderte zurückgeblieben waren. Alle Hannaken waren zahnlos und liefen barfuß auf den äckern rum und hatten immer ein großes Stück Roggenbrot dabei, mit zerdrücktem und gesalzenem Speck oder Brot mit Pflaumenmarmelade. Auch die Frauen liefen barfuß herum, in Rock und Bluse, mit einem tief ins Gesicht gezogenen Kopftuch. Schön war die Tracht der Buben und kleinen Mädchen, die mich zu einem gereimten Kommentar inspirierte: «Ganz kurze Kleidchen farbenfroh, ohne Höschen, da freut sich der Popo». Der anhaltende Krieg machte auch den Hannaken das Leben langsam schwer, weil sie zwei Drittel ihrer Ernte an die staatliche Vorratsstelle abgeben mussten. Währenddessen arbeiteten wir hart, manchmal vom frühen Morgen bis zum Dunkelwerden, um die mageren Mittel zusammenzukratzen, die es uns ermöglichten, nicht zu verhungern. Doch mir schien dieses schwere Kreuz leicht im Vergleich zu dem, welches mir ständig das Herz durchbohrte. Wer hätte je elf Jahre zuvor an unserem Hochzeitstag gedacht, dass Momi und ich auf solch furchtbare Art und Weise getrennt sein würden, ohne etwas voneinander zu wissen? Doch für eine Zeit lang legte sich wieder Tau auf die welken Blumen, und erweckte sie zu neuem Leben. Auf eine vom Olmützer Roten Kreuz dem II Reg. T.K.J. geschriebene Karte, kam die Antwort, dass niemand wusste, wo sich Mosele Girolamo seit den ersten Septembertagen 1914 aufhielt, dass er jedoch mit Sicherheit gefangen genommen worden war, denn er stehe auf keiner Liste. Also betete ich inbrünstig zu Gott, er möge uns beschützen und uns nach unserem Leidensweg wieder zusammenbringen. Doch die Tage vergingen wie immer, alle gleich, zwischen Angst und Hoffnung, ohne je wieder Nachricht zu bekommen. Ich betete auch ständig darum, dass der Tag kommen möge, an dem die Menschen, die Christus durch sein eigenes Blut zu Brüdern gemacht hatte, sich wieder den Friedenskuss gäben, und endlich kam zumindest dieser. So kehrten wir mit vielen anderen Landsleuten im Januar 1919 nach Levico zurück. Die Rückreise unterschied sich kaum von der Hinreise; auch diesmal war der Waggon kalt, dunkel, übelriechend, und wir mussten auf einem mit Parasiten verseuchten Heu liegen. Im Herzen schlummerte Hoffnung, doch auch Unruhe: Was würde uns bei der Heimkehr erwarten? Nach fünf Tagen kamen wir endlich in Levico an. Es war kalt und es schneite; im Park, am Ende der Bahnhofsstraße, bogen sich die äste der Bäume unter dem Gewicht des Schnees. Auch in meinem Inneren war es kalt und mein Herz zerbrach daran, die Häuser meines geliebten Heimatortes so zerstört zu sehen, geplündert, türen– und fensterlos, mit Küchen, die als Ställe benutzt wurden. Während der ersten Monate fanden wir in der Volksschule Unterschlupf, die zu Kriegszeiten als Krankenhaus gedient hatte und auf der noch das aufgemalte rote Kreuz zu sehen war. Inzwischen fingen das italienische Pionierkorps, die Genossenschaften, private Bürger an, die Gebäude auszubessern, Einfassungen und Böden wieder instand zu setzen und Schornsteine neu zu bauen, damit der Rauch abziehen konnte. Sobald es fertig war, zog auch ich wieder in das Häuschen hinter meinem Rücken ein, in dem sich noch immer viele Restbestände der Kriegszeit befinden, wie tief ins Fleisch gebohrte Bombensplitter. Nun wird es dunkel und die Feldwege, die von der Talsohle in die Vezzena führen, sieht man kaum mehr, dort, wo sie aus dem Wald rauskommen und sich an den steilen Felsen emporschlängeln. Heute werden sie kaum mehr benutzt, doch in den Monaten nach der Rückkehr aus Mähren marschierten die Menschen in Prozessionen zu den Festungen und Baracken der Hochebene hoch oder zu den Feldlazaretten in Monterovere, auf der Suche nach Dachrinnen, Einfassungen, Türen, Pritschen, Kochkesseln, Feldöfen und all dem, was wiederverwertet werden konnte, um das Leben in der harten Nachkriegszeit zu erleichtern. Ich hatte auch die Behälter fürs Kanonenpulver ergattert, die ich in den folgenden Jahren als Eierkörbe benutzte, wenn ich mit der Trage auf den Schultern nach Levico hinunterlief. Die Trage war schwer vom Gewicht der Erzeugnisse meines Hofes, welche ich an Hotels oder Privathaushalte verkaufte, wo ich meine „Posten“ hatte. Mein Anblick, klein, rundlich, immer ein Lächeln auf den Lippen, war meinen Landsleuten vertraut, und sie nannten mich „die Nani vom Col delle Benne“. Immer mit einer gestreiften, rostrot-lilafarbenen Schürze gekleidet, im Winter in einen selbst gestrickten Schal gewickelt, kam ich bei jedem Wetter ins Dorf, auch bei hohem Schnee, nach einem fast fünf Kilometer langen Fußmarsch auf einer holprigen und schlecht begehbaren Straße. Als allererstes ging ich in die Kirche, um die erste Frühmesse um halb sechs zu besuchen und für meinen Momi zu beten. Mir wurde gesagt, er sei auf dem Schlachtfeld in Galizien im Kampf gegen den russischen Feind gefallen. Es gab eine Schlacht bei einer Brücke über die Wolga, mit Minen im Flussbett oder in einem nahe gelegenen Feld. Das Wasser färbte sich rot mit Blut, da man damals noch mit Blankwaffen kämpfte. Mir wurde gesagt, mein Momi sei im Fluss verschwunden, weil man seine Erkennungsmarke nie mehr wiederfand. Doch ich warte noch immer auf ihn und es ist wegen des Versprechens, das ich ihm gegeben habe, dass ich nie zugelassen habe, dass der Wagen meines Lebens fuhr wohin er wollte, recht oder schlecht, ohne Steuer. Meinen Schmerz habe ich in lebendige Erinnerung verwandelt und meine Tage in Verantwortung und Großzügigkeit. Um mich herum ist durch meine harte Arbeit auf dem Feld, durch die Heidelbeer–, Maulbeer– und Holundermarmelade, die ich für meine kleinen Enkelinnen zubereite, durch die „Strauben“ oder die Hopfenbrause, die ich meinen Besuchern anbiete, das Leben wieder aufgeblüht. Nun ist es schon Nacht, aber am Himmel steht ein schöner Mond, dessen helles Licht die ganze geliebte Natur um mich herum beleuchtet. Dort hinten, auf einer Lichtung hinter dem Weinberg, ist ein Hase aufgetaucht. Er sieht unruhig aus, vielleicht, weil seine Gefährtin in irgendeinem Fangeisen hängengeblieben ist oder von der Flinte eines Wilderers erschossen worden ist. Ich erinnere mich noch an die Hasenjagden, die manchmal von den Bauern in Mähren organisiert wurden. Es wurden so viele Hasen geschossen, dass sie einen Wagen brauchten, um sie ins Dorf zu bringen und für je eine Krone zu verkaufen. Doch in dieser Nacht ist alles anders. Die Hasen dort auf der Wiese sind jetzt zu zweit, sie scheinen sich etwas zu sagen, ganz ruhig, furchtlos. Auch ich bin ruhig, furchtlos, und fühle, dass mein Momi mich bald wieder in einer Umarmung ohne Ende halten wird, denn sie vibriert durch die Gegenwart der Ewigkeit.