Das Verschwinden des Berges
Peter TeymlPeter Teyml
Nato nel 1943, vive a Hall nel Tirolo. Scrive testi in prosa e poesia per saggi di cultura giornalistica.
IL RACCONTO
Kapitel 1: „Einstieg & Anstieg“ (Sommer 1950)
Vorsichtig bog der LKW von der scheckig asphaltierten Bundesstraße im Inntal in die geschotterte Militär- und Landesstraße eines Tiroler Nebentales ein, denn auf der Ladefläche befand sich ungewöhnliches Transportgut: Kinder aus ärmeren Familien, blass und schlecht gekleidet, vom Roten Kreuz in den Schuiferien aufs Land geschickt, um dort mitteis Sonne und Bauernkost zu Kräften zu kommen. Aber es wehten doch Straßenstaub und die Rußfahne des alten, dieselbetriebenen Motors in den Verschlag, in welchem die Buben und Mädchen auf ihren Rucksäcken saßen und einer ihnen noch unbekannten Welt entgegen fuhren.
Die knapp siebenjährigen Zwillinge Franz & Luise hielten sich ängstlich
an der Hand und hatten keine Worte fur ihre Neugierde und bangen Gefühle.
Es war ihnen nur gesagt worden, dass sie nicht zusammen bleiben könnten,
sondern jeder auf einem anderen Bergbauernhof untergebracht würde.
Es wären jedoch miteinander verwandte Familien und die Anwesen seien
nicht weit voneinander entfernt. Nicht weit voneinander! Sie waren Kleinstadtkinder,
und die Vorstadt bedeutete für sie schon das Ende ihrer vertrauten
Welt. Hier jedoch lagen die Gehöfte weit auseinander, getrennt
durch Felder, äcker, Raine und Waldflecken. Es verkehrten keine Autos, nur
hin und wieder wurden Transporte mittels schwerfälliger Pferdefuhrwerke
durchgeführt, die sich muhsam durch holprige Hohlwege quälten. Aber
davon wussten die Beiden noch nichts, denn sie näherten sich erst einmal
dem vorläufigen Ziel, einem Sammelplatz an der Militärstraße, von welchem
es zu Fuß uber alte Steige, von den Bauern Gassen genannt, zum ganz aus
Holz gebauten Schulgebäude ging, das sich, braun und abgewittert, an die
steilen äcker der Berggemeinde lehnte. „Gassen“ sagten sie hier zu den
eingezäunten Steigen, in welchen Königskerzen, Heckenrosen- u. Berberitzensträucher
wucherten und Dutzende den jungen Städtern unbekannter
Pflanzen wuchsen. Was wussten die Menschen hier von den dunklen, engen
Gassen ihrer Stadt, den lichtlosen Höfen, den Ratten in den Kellern, Schuppen
und Kanälen? Von den Läden und Lagern, den Handwerksbetrieben, den
Wirtshäusern und Cafés, den ständig präsenten Geräuschen und Geruchen
eines permanent gedrängten Zusammenlebens?
Die mit Kleidern prall gefüllten Rucksäcke waren schwer, das Steigen auf
den steilen Gassen ungewohnt, die nunmehrigen Begleiter von unbeholfener
Schweigsamkeit, kaum bereit, auf die vielen ängstlichen Fragen der Kinder
einzugehen. Baid hieß es für Franz und Luise vorerst voneinander
Abschied zu nehmen, das Mädchen wurde von einer freundlichen Bäuerin in
das mittlere Gebäude eines Drei-Höfe-Weilers geführt, während der Junge in
Begleitung einer etwas unwirschen Bäuerin einem abgelegeneren Gehöft
zustrebte. Man schritt auf schmalen Wegen zwischen duftenden Roggenfeldern,
Kartoffeläckern, den wehenden Fahnen der Haferrispen und Flecken
mit kurzen, grannigen Gerstenähren immer höher, bis das Gehöft erreicht
war, das beinahe trotzig über der herben Pracht der Bergwiesen thronte,
einer kleinen Festung ähnlicher als den gemutlich wirkenden Bauernhöfen
im Dorf. Der aus Steinen errichtete und mit großem Mörtel verputzte Unterbau
war weiß gekalkt und verstärkte so den Kontrast zu den sonnengeschwärzten
Balken, aus dem der übrige Bau gezimmert war. Die fast abweisende
Strenge des Hauses wurde gemildert durch eine Reihe von matt
leuchtenden Hängenelken auf dem Baikon über dem Eingang.
Die Frau zog einen großen, grob gearbeiteten Schiüssel unter einem Scheit an der Holziege hervor und sperrte das Schnappschloss der schweren, verwitterten Türe auf. Wortlos foigte Franz der gedrungenen Gestalt der Bäuerin, trat in einen dunklen Gang, in welchem sich eine primitive Werkbank mit allerlei Gerätschaften befand, deren Zweck er erst in den folgenden Wochen kennen lernen sollte. Nun betraten sie die Küche, die mit einem großen, wei& verkachelten Herd sowie einem Esstisch ausgestattet war, kein StuhI, aber eine breite Wandbank an der Fensterseite sowie eine lehnenlose Bank, die unter dem Tisch hervorgeholt werden konnte. Die Wände waren weiß gekalkt, aber die Küchendecke glänzte rußig-schwarz, was auf eine vormals bestehende Rauchküche schließen ließ. Nun führte ihn die Bäuerin durch eine erstaunlich niedere Türöffnung in die ganz mit Zirbenholz getäfelte Stube. Ein gemauerter Ofen und eine auf drei Seiten herumlaufende Bank sowie ein hölzerner überbau mit Liegefläche vermittelten ein Gefühl der Geborgenheit, die Franz als Bewohner einer engen, überfullten Stadtwohnung neu war. Am Fenster stand eine Nähmaschine mit gusseisernem Gestell, in einer Ecke ein Tisch mit weißer Tischdecke mit roter Stickerei, an der Wand darüber hingen gerahmte Heiligenbilder in kitschigen Farbdrucken, ein schwarzes Kruzifix mit einem ebenfalls gusseisernen Korpus des Gekreuzigten sowie die Darstellung eines durch Naturgewalten gefährdeten Knaben, den jedoch ein mit gewaltigen Flügein ausgestatteter Engel beschützt. An einer Wand hingen Fotos von im 2. Weltkrieg gefallenen Männern und mit Hakenkreuzen versehenen Urkunden des Reichsnährstandes, oder so ähniich lautend, also so eine Art NS - Bauernkammer. Auf ein Bankende an der Fensterfront war eine Milchzentrifuge angeschraubt, und auf der Fensterbank standen Schüssein mit rahmiger Sauermiich, an welcher sich ein paar Stubenfliegen labten. Nachdem man sich wieder in die Kuche begeben hatte, schnitzte die Bäuerin mit einem gewaltigen Messer in ihren derben Händen geschickt Holzrosen für ein Feuer im Herd und bereitete Malzkaffee mit viel Milch und Zucker, schnitt von einem Roggenbrotlaib dicke Stücke herunter und belegte diese mit frisch duftenden Butterscheiben. Was für ein Luxus im Gegensatz von zu Hause, wo man kraftloses Brot mit ein wenig billiger Margarine beschmierte! Franz verzehrte mit animalischer Hingabe die ungewohnt üppige Jause und fragte dann, wo denn die anderen Hausbewohner wären. Die Antwort fiel kurz aus: „Die Buam sind im Wald und kommen heut nimmer.“ Dann nahm sie Franz bei der Hand und zog ihn die knarrende Treppe in den Oberstock hinauf, üffnete die Türe zu einer dunklen Kammer mit vier Betten und zwei kleinen Fensterüffnungen und meinte, in dem vorderen Bett könne er dann schlafen. Dann verschwand sie wortios und ließ den Jungen allein, der sich nun der Schuhe sowie Reisekieidung entledigte und sich die kurze, speckige Lederhose anzog, die er von seinem älteren Bruder ubernommen hatte. Barfuß, bang und gluckiich zugleich, lief er vor das Haus und warf sich dort in das weiche, kurze Gras. über ihm zogen hohe Wolkenberge und warfen Schatten auf die Kare der Berge im Norden. Nachdem er die nähere Umgebung und die kleineren Gebäude hinter dem Haus ein wenig erforscht hatte, war ihm etwas unheimlich in der ungewohnten Einsamkeit und Stille. So rief er nach der Bäuerin, deren Name er noch gar nicht kannte: «Hallo, Bäuerin, hallo, wo bist du?“ Aber niemand antwortete, und die Angst stieg in ihm hoch. In der Stadt war doch immer jemand zugegen, Eltern, Geschwister, der Hund des Vaters, Nachbarn, befreundete Jungen in der Gasse.
Hier gewahrte er nur ein paar Hühner auf dem Feld, eine dösende Katze auf einem Fenstervorsprung, einen gefähriich wirkenden Gänserich mit seiner kleinen Schar Gänse und einen scheinbar verrückten Hahn, der mit gespreizten Flügein eine Henne trat. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, keuchend erkundete er die Räume des Hauses, in der Hoffnung, die Bäuerin zu fìnden. „Niemand da“ pochte es in seinem Kopf, „also ums Haus“ - erfolglos! Nun riss er die Türe des Zuhäusls, welches Gänsestall und Waschküche beherbergte, auf, rannte in den Tennen, aus dem erschrocken zwei gescheckte Katzen stoben und umrundete schlussendlich sogar den jaucheumflossenen Misthaufen. Endlich entdeckte er die Gesuchte, die gerade aus dem Stali trat, um eine Kuh an die Tränke, einem ausgehöhlten Baumstamm, hinter dem Haus zu treiben. Erieichtert lief Franz auf die Bäuerin zu und fragte sie schüchtern, warum sie ihm nicht sage, wohin sie ginge. Das war nun etwas Ungewohntes für die offenbar an Einsamkeit gewohnte Frau, und sie meinte, dass sie immer irgendwo arbeiten würde und ihn nur riefe, wenn es etwas zum Helfen gäbe oder es Essenszeit wäre. Ansonsten müsse sich ein „Bua“ schon selber beschäftigen. Dann meinte sie noch, dass er sie nur rufen solle, wenn es wichtig wäre, außerdem wäre ihr „Lies“ lieber als „Bäuerin“.
Den Rest des Tages erforschte Franz die nähere Umgebung, den zweiten Stadel im unteren Feld, den Gänseweiher in der Lärchenwiese, die moorigen Flecken der oberen Wiese, in denen sich über farbenschillernden Pfützen Libellen tummelten, den mit Heidekraut und Preiselbeerstauden bewachsenen Wiesenstreifen zwischen Acker und Waldzaun, welcher Wild und fremdes Weidevieh abhalten sollte, dann erklomm er die geheimnisvollen Gassen mit ihren Mauern aus Schiefer- und Quarzsteinen und abgewitterten, brennnesselumwucherten Zäunen. Alle diese aufregenden Orte sollten nun einen ganzen langen Kindersommer Heimatwerden.
Die Lage des Hofes bot eine prächtige Aussicht auf das Inntal, die Felder, Wiesen und äcker im Talgrund boten ein Bild der Ordnung und des Friedens, die barocken Zwiebelturmdächer und die spitzen Dächer gotischer Kirchen ragten aus den hingeduckten Häusern der Dörfer hervor, der Fluss, welcher dem Tal seinen Namen gibt, widerspiegelte, schmelzendem Silber gleich, das Sonnenlicht, ein Zug durchschnitt in einer Spielzeuglandschaft scheinbar lautlos den Talboden, ein Habicht kreiste einsam über dem beinahe schwarzen Fichtenwald im grenzenlosen blauen Luftmeer. Bald war der Abend da, das Licht der tiefstehenden Sonne im Westen badete nun in allen spiegelnden Flächen des Tales; in Fensterscheiben, in Fluss, Bach und Weiher blinkte es gold- u. kupferfarben aus den dunstigen Niederungen. Rasch verschwand die Sonne hinter den Bergen, aber noch lange leuchtete der Himmel nach in orangefarbenen und zarten blaügrunen Porzellantönen. Wind kam auf, bewegte die Bäume am Waldrand, die Fichten und Tannen schwankten stili wie schwer Betrunkene, in den Blättern der Birken und Eschen begann ein immer stärker werdendes Rauschen, und in den Stämmen der freistehenden Lärchen in der oberen Wiese hob ein leises ächzen und Knarren an; das Wasser im Gänseweiher kräuselte sich fein, die Hühner, welche sonst im frisch gemähten Feld weit verteilt Jagd auf Insekten und Würmer machten, rückten nun immer weiter zusammen und näherten sich nach und nach ihrem Einstieg zum Verschlag im Stall. Die Kuh brüllte nach Futter und Erleichterung ihres Euters, sie war im Sommer das einzige Milchtier im Hause, alle anderen befanden sich auf der Alm über dem Joch im Zillertal.
Die Bäuerin schob mit einem Rechen das frische Kühgras zusammen und beförderte es mitteis einer Gabel in den großen Rückenkorb, in dessen Schlaufen sie nun schlüpfte und Franz bat, ihr aufzuhelfen. Während der Junge in der dämmerigen Küche auf das Abendessen wartete und mit der Bauernzeitung nach den zahlreichen Fliegen schlug, schlichen zwei Katzen, eine schwarz-weiß und eine grau getigerte, herein, ängstlich und neugierig wegen des unbekannten Menschleins in ihrem Revier. Sie näherten sich geduckt ihrem Milchschüsselchen, bereit, sich sofort bei Gefahr oder Störung zurückzuziehen. Franz wagte kaum, zu atmen, in der Stille hörte man nur das eilige Schlabbern der rosigen Katzenzungen und das einschläfernde Flügelgesumm einer dicken Stubenfliege.
Bald hatten die Vorboten der Nacht ihre sanften, blauen Tücher über
den Berg gelegt, nun beherrschten die Geräusche des Abends Wald und
Wiese, der Brunnen hinter dem Haus, das Quaken eines Frosches in der
Sumpfwiese, das metallische Dengelklopfen, ein Hundegebell an einem entfernten
Hof, das Bimmeln einer Aveglocke im Tal.
Wer rüttelte da an seinem Arm? Franz schlug unwillig und benommen
die Augen auf. Er war wohi auf der harten Bank trotz der polsterlosen
gezimmerten Kopfstütze eingeschlafen, und die Bäuerin hatte ihn dann mit
einem Schurz wegen der lästigen Fliegen zugedeckt und während seines
Schlummers ein Mus gekocht.