Quarta edizione 2007 • secondo classificato seconda categoria

Der alte Mann und das Madchen

Evelin Juen

Evelin Juen

Mag. Evelin Juen. Geboren 1964. Sie wohnt in Imst in Tirol. Kunstgeschichte und Archaologiestudium. Diplomarbeit mit dem Thema: Anton Christian “Wort und Bild”. Diese erschien 1996 im Haymonverlag unter dem Titel: Anton Christian “Das Malen, das Schreiben”. Buchhandlerausbildung, Kulturarbeit fur Galerien und im Museumsbereich, Katalogtexte, Reden. Freischaffende Autorin und Jounalistin. Zahlreiche Veroffentlichungen und Auszeichnungen. Arbeit als Texterin, Komponistin, Sangerin und im Bereich der bildenden Kunst. Ausgedehnte Reisen nach Asien, Sudamerika und Afrika.

LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA

In dieser Erzählung begegnen sich ein alter Mann und ein junges Mädchen an einem Ort, der wie außerhalb der Zeit zu sein scheint.In einer abgelegenen Hütte malt der alte Mann das Mädchen und erzählt von seiner Kindheit am Meer. Die beiden kommen sich nahe, sehr nahe, sie stehen für eine kurze Zeit wie außerhalb aller Kategorien und Normen, die gemeinhin das Leben beherrschen, sogar eine zarte Erotik ist möglich. Der Jury scheint, es geht in dieser Erzählung darum, zu einer reineren, vorurteilsloseren Form der Existenz vorzudringen.

IL RACCONTO

Das Wasser fließt träge dahin und leckt die Ufer des Flusses mit sanfter Gleichmäßigkeit.
Die großen Ahornbäume strecken ihre Wurzeln aus dem Erdreich, graben mit steter Langsamkeit nach neuem Boden, unbeirrbar, klar und eindeutig.

Als der Morgen anbricht, überflutet er die Landschaft ringsum mit silbernem, kühlemn Glanz. Spiegelt sich funkelnd in der Feuchtigkeit der zurückweichenden Nacht.
Die Ruhe ist vollkommen, Innehalten, stilles Universum in der Welt. Dann das Atmen aus moosüberwachsenen Steinen, der Tag lässt Nebel zwischen den Hügeln aufsteigen, das Reh weicht zurück.
Rotbraun. Vorsichtiger, wachsamer Blick aus unschuldigen, großen Augen. Schon verschmolzen mit dem Wald, mit dunklem Gehölz, mit letzten Rufen der Dunkelheit. Die Schatten verlassen das Tal, machen Platz, geben Geheimnisse preis.

Die Ecken bröckeln zu formlosen Wunden aus, fallen als vergessene Relikte in den Garten, in dem Brennnessel zu großen Stauden wuchert. Zwischen den Heckenrosen schimmert die Unsichtbarkeit, leuchtet das spinngewebte Lichterspiel.
Das Dach lässt sich schwach und gebrechlich auf den weiß getünchten Steinmauern nieder, stöhnt im Wind, viele Jahre schon.

Ein gelbes Fahrrad tropft in das Bild, bringt Frische und Leben, bringt Nell und ihr schwirrendes Lachen. Hinein mit dir! ruft sie, es ist kalt.
Sein starrer Körper dehnt sich, gewinnt an Volumen. Hemd und Augen von einem tiefen Blau, ein Mann vom Meer. Irgendwann war das Alter gekommen, hatte ihn erschreckt beim Anblick im Spiegel, ist geblieben auf einen langen Augenblick.
Seine Stimme lässt ihn nicht im Stich, fest und sicher, trotz des klopfenden Herzens. Sie steht schon bei ihm, erhitzt von der Anstrengung.

Ihr warmer Körper dampft, er riecht ihren Schweiß. Sie dreht leicht den Kopf seitwärts, eine bezaubernde, fast unmerkliche Bewegung.

Lass uns hinein gehen, sie drängt ihn mit sanfter Stimme, kommt ihm dabei nahe.
Er weicht zurück, spürt schmerzhaft seinen Rücken. Rehaugen blicken in die seinen, er sieht alles an ihr. Das kleine Muttermal, Insel im weichen Flaum, hebt sich.
Sie lächelt.

Das Wesen mit den langen, schlanken Beinen. Jungenbeine, hat sie anfangs gescherzt. Sie, deren Haar im Dunkel des Vordaches matt glänzt. Er spürt ihre Hand, ein Streifzug nur, dann gehen sie zusammen ins Haus. Die Morgenluft macht ihn frösteln.
Im Inneren zucken die Flammen, der Raum atmet lebendiges Feuer. Begierig saugt sie nach dem Duft des Holzes, schnüffelt mit geblähten, zarten Nüstern. Licht fällt dünn und geschwächt durch die staubigen Fenster herein, schafft Dämmerung am Beginn des Tages. Er legt ihr ein Kissen auf den Stuhl, beginnt, Frühstück zuzubereiten.
Sie hat darauf bestanden, dass er sich eine Jacke überzieht. Nun sitzt sie da, zufrieden wartend, ab und zu ein Nicken, während er redet.

über die Wipfel der Bäume geht ein Rauschen, ein fließendes Raunen, das so lange andauert, bis die Angst erwacht.
Dann ist es wieder ruhig.

Die Wildrosensträucher locken die Amseln mit ihren letzten Früchten, begieriges Schnappen und Schlucken, wirrer Taumel.
Bald wird das Fest vorbei sein, das Mahl beendet. Sie haben sich zurückgelehnt, satt und vertraut still, sitzen, bis die Sonne gegen Mittag den Raum durchflutet.
Lass uns beginnen, damit sich der Kreis schließen kann, murmelt er.

Sie ist nackt. Nie zuvor in seinem Leben, hat sich ihm Weiblichkeit so natürlich dargeboten. Ihr vollkommenes Entblößt sein. Wenn sich der Hals zu einem Bogen formt, die Kehle offen liegt. Das Schweben und Fließen ihrer Silhouette, ein warmer Strom, der ihn mit sich nimmt.
Grelle Helligkeit liegt auf ihrem linken Bein. Steigt auf zu dem flaumüberzogenen Hügel ihrer Scham, macht einen Schwung das Becken hinauf. Fällt hinunter auf die linke Brust, schmiegt sich hinauf zum breit geschwungenen Mund und ergießt sich schließlich mit ihrem Haar zu Boden.
Er lächelt. Findet mit seinen Blicken die Höhlen, findet die Schatten. Deine Dunkelheit ist ebenso lockend wie dein Licht. Bleib so, nicht bewegen - Bin ich schön? Leise Worte, ausgesprochen von einem Bild, einer Komposition. Aber er ist schon fort.

Wenn sie so regungslos verharrt, ihn betrachtet, wie er immer wieder von ihr zur Staffelei, dann wieder aus dem Fenster blickt, weit entfernt, in einer anderen Wirklichkeit, fragt sie sich, was er sieht. Welche Menschen er dort trifft, ob es jemanden gibt, dem er vertraut.
Manchmal, selten, erzählt er. Dann verlieren sich die Stunden und sie fährt erst spätabends zurück. Die Geschichten sind bunt und voller Gerüche. Bruchstücke eines Lebens, dessen Teil sie geworden ist, seit er begonnen hat, sie zu malen. Seine Phantasie lässt ihren Körpers neu entstehen, sie ahnt, er stillt an ihr seine Sehnsucht, findet die Heimat seiner Kindheit. Die weiß getünchten Häuser, das Salz auf den Lippen. Alles ist Erinnerung. Spuren überlappen sich, schieben sich ineinander zu einem verwirrenden Netz, das die Gegenwart trägt.

Aphrodite, du bist mir Vertrautheit an einem fremden Ort, hatte er damals geflüstert und sie hat sich auf die Verwandlung eingelassen. Damals, in einem anderen Leben. Die Hitze des Hochsommers hatte sie zu dem kleinen Waldweiher geführt, die Mücken tanzten und ließen sich kreisend von der aufsteigenden Luft nach oben tragen. Und das leerstehende, alte Haus war plötzlich kein verlassener Ort mehr. Er war da.

Langsam hebt sich sein Arm. Die Landschaft ihrer Formen ist ein Wiedererkennen, bringen ihm Jugend und Wärme und er entgleitet in die Erinnerung – :
Die Klippen leuchten weiß in dem unendlichen Reichtum an Blau. Es ist heiß, auch wenn der Wind auf dem Meer vibriert, kräuselt und zupft, das glatte Bild des Spiegels verwischend. Seemöwen kreischen in Schwärmen, stoßen hinab, fallen aus dem Himmel mit atemberaubendem Mut, er träumt davon, immer wieder. Das Wasser küssen nur, dann, ohne die Harmonie der Bewegungen zu stören, wieder davon segeln.
Abstand gewinnen.
Im Sonnenlicht erwachen die Farben zum Leben, legen sich zueinander, wachsen im gegenseitigen Glanz. Pastose üppigkeit, kraftvolle Linien. Dann, mit unendlicher Sorgfalt und Zartheit, die Vögel.
Später wird er zum Strand hinunter laufen, das reinigende Ritual am Ende des Tages, das ihn zurückholt in den feucht pulsierenden Leib. Mit offenen Augen am Rükken liegend treibt er, Ebbe und Flut, sich vergessend zwischen den Gezeiten.

Komm, flüstert ihre Stimme, von jenseits der Wellen getragen und er kehrt aus der Vergangenheit zurück. Sieht sich orientierungslos im Zimmer um, fremder Raum, fremdes Haus, fremdes Land. Dann dringt der vertraute Geruch der ölfarbe in sein Bewusstsein.
Das Bild ist fertig, nicht? Sag mir, ist es jetzt vorbei?, fragt sie und steht langsam auf. Gleitende Bewegungen, seine Augen hypnotisch fixierend, während sie näher kommt. Ihre Schönheit blendet ihn und durchströmt den müden Körper wie Tausende von Glühwürmchen, die sein Innerstes mit ihrem Licht wärmen. Wie er es genießt, wenn seine Poren die Lebendigkeit ihres Seins aufsaugen – Vorbei, sagt er traurig und lässt sich in die Farbe ihrer Augen fallen. Dann ist sie neben der Staffelei und senkt den Kopf. Die Verbindung reißt, ihr Gesicht wird zum Profil.

Zwei Monate. Zufällig oder vielleicht auch nicht. Sie hat viel darüber nachgedacht.
Nun ist es zu Ende. Marc und ihre Freundin Lea wollten wissen, was der Fremde von ihr will. Was er redet, wer er ist. Sie bedrängten sie. Warum sie sich verändert. Keiner versteht, am allerwenigsten sie selbst.
Die tiefen Furchen, die sein Gesicht durchziehen. Mehr und mehr Wege, auf denen sie sich heimlich entlang getastet hat, entzückt über jede Abzweigung. Er schien es nicht zu merken. Wollte nicht erkennen. All die ungezählten Stunden, versunken in seine Malerei.
Ich liebe ihn, würde sie antworten, auf eine Frage, die allen zu absurd schien, um gestellt zu werden.

Das Meer hat mich herumgewirbelt, mitgerissen und in eine andere Welt gespuckt, sagt er.
Seine Antworten, immer Geschichten in der Geschichte, mochten Wahrheit in sich tragen oder Lügen sein. Dennoch gibt er ihr Nähe, für die sie keine Worte hat. Sie schlägt die Augen auf, dreht sich zum Bild.

Dann, als er hinter ihr steht und seine Hände über ihren Schultern schweben, sich in der Luft hebend und senkend mit ihrem Atem, riecht er an ihrem Haar. Salbei und Minze.
Die Stille im Raum ist ein silbern glänzender, spiegelglatter See, der die Welt auf den Kopf stellt. Gedanken zerfließen an den Rändern, verwischen die Momente der Angst, überschreiten Grenzen.
Zum erstenmal berührt er sie. Erschauert, kostet aus. Lässt zu, dass vertrocknete Finger auf samtweicher Haut verweilen. Ruhig liegen bleiben, Kraft schöpfen.

ls es dunkler wird, alle Farben vollgesogen mit Grau, Schatten zwischen Schatten, lösen sich ihre Blicke vom Gemälde. Sie erwachen aus der Bewegungslosigkeit, regen sich, sind verwirrt.
Aphrodite, flüstert er immer noch dicht hinter ihr stehend.
Sie nickt leicht, er kann fühlen wie sich ihre Muskeln anspannen.
Morgen werde ich nicht mehr hier sein, murmelt er, während er zögernd seine Hände von ihren Schultern hebt, einen Schritt zurückweicht.

Das Vakuum rieselt als eisiger Schauder über ihren Rücken, sie schwankt leicht, konzentriert sich auf ihr pulsierendes, forderndes Zentrum, findet zum Gleichgewicht. Dann etwas Kaltes, Glattes in ihrer Hand.
Seine rauen Lippen hauchen nahe am linken Ohr und ihr Atem wird heftiger. Tu es! flüstert er. Nur du und ich und ein Geheimnis.
Ihre Hand zittert, als sie den Widerstand der Leinwand spürt, dann beginnt die Klinge schon breite Wunden zu schlagen. Risse klaffen, Körper und Landschaft ineinander verschlungen, Farben zu Farben.
Entstanden und vergangen. Dem grenzenlosen Fließen geschenkt.
Die Sterne funkeln, eine kalte, klare Nacht. Ein gelbes Fahrrad, wehende Haare.
Ein alter Mann am Fenster.