Beichte
Stefania PovoloStefania Povolo
Ich wohne im Fleimstal, Trentino, und besuche seit nunmehr einem Jahr die Fakultät für Kommunikationswissenschaften, Richtung Verlagswesen und Journalismus an der Universität Verona. Dort war ich vorübergehend in einem Studentenwohnheim untergebracht und bin daher für kurze Zeit mit der besonderen und interessanten Klosterwelt in Kontakt gekommen. Deshalb habe ich beschlossen, die häufig vergessene Welt derjenigen zu erzählen, die ein Leben im Dienste der Religion wählen und versucht, einige der möglichen Gründe für diese scheinbar unverständliche Wahl mitzuteilen.
LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA
Ein langer, an Mutter und Vater gerichteter Brief, mit einer überraschend gegen den Strom schwimmenden Offenbarung: Ihre Tochter will Nonne werden, das ewige Gelübde ablegen. Eine ruhige Darlegung und zugleich ein Bild der jugendlichen Unruhe und Rastlosigkeit. Ein ausgeglichener und schnörkelloser Stil, der von einem übergang berichtet, der in der westlichen, von „Täuschungsmanövern“ dominierten Welt immer seltener wird.
IL RACCONTO
Liebe Mama, lieber Papa,
Ich hatte es Euch nach dem langen Streit der letzten Tage bereits angekündigt. Ich
weiß, dass Ihr jetzt umso zorniger mit mir sein werdet, aber was hätte ich denn tun
sollen? Ich habe mich dazu entschlossen fortzugehen und während Ihr diese Zeilen
lest, werde ich wahrscheinlich schon weit weg sein, hoffentlich fast schon dort angekommen,
wo ich hin möchte.
Ich wollte nicht, dass es so endete, und Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr
ich es bedauerte, Euch so unerschütterlich zu erleben. Ich werde mein Handy immer an
und aufgeladen lassen, falls Ihr mich anrufen wollt, um noch ein bisschen zu reden.
Bevor Ihr das macht, lest aber bitte diesen Brief zu Ende und hört einmal zu, ohne
mich zu unterbrechen. Lasst mich Euch erzählen, was ich empfinde und lasst mich versuchen,
Euch all das zu vermitteln, was ich erlebt habe, bevor ich zu meiner Entscheidung
gekommen bin, die nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Ich weiß, Ihr hättet Euch eine rosige Zukunft für mich gewünscht. Ihr hättet mich
gerne mit einem Mann, der mich liebt, gesehen, mit einer glücklichen Familie und einer
Arbeit, die mich interessiert, ich aber habe schon während des letzten Jahres auf dem
Gymnasium angefangen, Euch zu enttäuschen: Die Noten wurden immer schlechter, die
Nächte außer Haus immer häufiger, und ich wechselte meine Freunde von einem Tag
auf den anderen, ganz so, als ließe ich mich durch einen Wirbel von Vergnügen treiben,
ohne je haltzumachen, um den Sinn meines Lebens zu erforschen. Ich behaupte keineswegs,
mich richtig verhalten zu haben, das einzige, was ich entgegnen kann ist, dass
ich mich stets unangemessen fühlte. Unangemessen im Verhältnis zu all dem, was mich
umgab, zu meinem Freundeskreis, in dem mehr oder weniger jeder einen Traum vor
Augen hatte, den es zu erfüllen galt, zu meinen Schulkameradinnen, die mühelos zu
lernen schienen. Ich wusste nicht, was ich aus meinem Leben machen sollte, es sah
aus, als ob die ganze Welt sich gleich einem Sog drehe, weit von mir entfernt. Das Lernen
bereitete mir keinen Spaß, und das Einzige, was mich ein bisschen ablenkte, waren
der Rausch des Alkohols und die Dummheiten unter Freunden.
Ich hörte die langen Gespräche abends in Eurem Zimmer, wenn ich mich aufs Ausgehen
vorbereitete oder beim Heimkommen, frühmorgens. Ich spürte Eure ohnmächtige
Wut darüber, dass ich mein Leben vergeudete, darüber, mit ansehen zu müssen, wie ich
gleich einer Luftakrobatin auf einem zu dünnen Seil balancierte. Wie lange hätte ich
noch so weitermachen können? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, welche
die Ursache meiner Veränderung war. Ihr könnt Euch vielleicht nicht an Valeria erinnern,
ein blondes Mädchen aus meiner Clique, das einen kaputten Peugeot fuhr... Eines
Abends waren wir verabredet, um in die Disko zu gehen, und sie sollte mit dem Auto
nachkommen. Wir waren alle da, sie aber nicht. Wir versuchten sie anzurufen. Nachdem
wir sie nicht erreichen konnten, gingen wir trotzdem tanzen, sicher, dass sie es sich
anders überlegt hatte.
Erst am Tag darauf erfuhr ich aus den Zeitungen, dass sie gegen eine Mauer gerast
war, weil sie es so eilig hatte, uns zu erreichen, und weil der Asphalt nass war. Ich kann
mich nicht an ihre Beerdigung erinnern, womöglich bin ich gar nicht hingegangen. Ich
kannte sie wenig, wusste gerade mal ihren Namen und dass sie ein paar Jahre älter war
als ich. Wir gingen jeden Abend zusammen aus, und doch wusste ich so wenig über sie.
Sie ist wenige Meter von uns entfernt gestorben, während wir, anstatt uns Sorgen zu
machen, weil das Handy aus war, uns trotzdem vergnügt haben. Wir waren wie ein Rudel
von zufällig zusammengewürfelten Wesen, uns der Illusion der Nähe hingebend, die uns
vorgaukelte, dass es zwischen uns auch wirkliche Freundschaftsbande gäbe.
Ich hätte Euch gerne davon erzählt, aber Ihr schient mir so weit weg... Nach jenen
Tagen ließ ich die Dunkelheit langsam hinter mir. Ich vermied es, abends wegzugehen,
und die Freunde der Gruppe verschwanden. Ich fand wieder zu den „Tagesfreunden“
zurück, fing wieder an, regelmäßig zur Schule zu gehen und an die Abschlussprüfungen
zu denken. Doch die Unruhe hielt an. Auch wenn Ihr entspannter wirktet, so als hättet
Ihr Eure verschollene Tochter wiedergefunden, fühlte ich mich wie ein Nachttier, das
gezwungen wird, im Licht zu leben, eine lächelnde Marionette, die sich nur durch Plastik
und Baumwolle aufrecht hält.
Ich hatte noch nie eine eiserne Gesundheit besessen, und ich erkrankte. Ich
verlor mehrere Pfunde und wurde blass, wie ein rastloser und sehnsüchtiger
Schatten, der sich mit dem Winde fortbewegt. Ich hatte Euch zu sehr lieb und
versuchte, mein Unbehagen zu verbergen. Ich begann, mich sorgfältig zu
schminken, mehr zu essen und zu lächeln, auch wenn ich keine Lust dazu hatte.
Und Ihr schient erfreut über meine äußere Wiederherstellung.
Inmitten der Täuschungsmanöver bestand ich dann fast würdevoll die Reifeprüfung
und es war nun an der Zeit, an die Universität zu denken. Ich hatte Angst, doch auch
dies verschwieg ich. Es gab nichts in meinem Leben, wonach ich hätte streben wollen,
und eine Zeit lang hegte ich auch die Idee, meine Verstellungskunst zu nutzen, um
mich in der Theaterkarriere zu versuchen. Aber ich wusste, Ihr wärt damit nicht einverstanden
gewesen, und so überließ ich Euch die Wahl. Ich brachte haufenweise Universitätsflugblätter
nach Hause, und übersäte alle Zimmer damit.
Ziemlich bald trug meine Saat Früchte, und genauso bald war ich an der Juristischen
Fakultät eingeschrieben, dieselbe, die du schon besuchtest, Papa, der du so stolz
über mich zu sein schienst.
Ich bereue meine Wahl nicht, auch weil mir mein Studium nie wirklich wichtig war.
Euch so freudig an meinem Leben teilnehmend zu sehen, entschädigte mich für alles.
In dem Studentenheim zu wohnen, war jedoch meine Wahl. Ich wollte nicht erneut
den alten Gewohnheiten verfallen und wieder in schlechte Kreise geraten, und ich
dachte, dass mir das Eintauchen in ein so lebensfrohes Umfeld meine Suche erleichtern
würde.
Am Anfang war es auch so. Die ganzen Täuschungsmanöver konnten ungebremst
von vorne beginnen, mit einem noch breiteren Lächeln und einer noch süßeren Stimme
konnte ich mich Fremden vorstellen.
Ich habe meine Schauspielerei schon immer gehasst, aber indem ich mich auf diese
Weise präsentierte, schloss ich zunächst sehr viele neue Freundschaften. Ich fühlte
mich wohl und ausgeglichen, auch wenn ich manchmal so gerne die Freiheit eines traurigen
Augenblicks genossen hätte.
Das Studentenwohnheim wird von einer Nonnengemeinschaft geleitet. Diese dunklen
und ruhigen Gestalten hatten kaum Kontakt zu uns, ein Lächeln und ein paar kurze
Sätze beim Vorbeilaufen im Flur oder eine Reihe Anleitungen, die das Leben im Wohnheim
regelten. Die Ruhe, mit der sie lebten, machte mich neugierig, in der Welt und
Wirklichkeit verankert und doch so besonnen und abgewandt, als lebten sie nach einer
Vision, die sich deutlich von der aller anderen unterschied.
Ich habe es immer gemocht, zum Gottesdienst zu gehen, etwas Ruhe für mich
selbst zu finden und bei jener höheren Kraft, die alles regelt, Hilfe zu suchen. Seit ich
aber in dieser dunklen Lebensphase steckte, hatte ich nicht mehr spontan gebetet. Ich
fand meinen Weg nicht und begann an der Existenz eines Regelungsprinzips zu zweifeln,
das mich in diesen dichten und kalten Nebel zwang.
Doch all diese dunkel verschleierten Frauen schienen keinerlei Zweifel zu haben.
Eines Tages betrat ich, in meine überlegungen versunken, den Dom der Stadt, in
der ich studierte. Der dunkle und strenge Raum roch nach Holz, Staub und Weihrauch,
wie alle Kirchen, und dieser feuchte und einladende Geruch brachte mich dazu, mich in
den letzten Bänken hinzuknien, um ungestört meinem traurigen Gedankengang zu folgen.
Ich war wenige Schritte vom Wohnheim entfernt, und um mich herum waren einige
der Nonnen, die ich jeden Tag traf, aber in diesem Moment bemerkte ich das nicht.
Ich dachte an Valeria, daran, wie einsam ich mich fühlte, und an die Mühe, mich
stets vor den anderen zu verstellen. An mein Leben ohne Ziel und meinen inneren
Kampf, der an mir zehrte. Noch immer in Gedanken versunken, bewegte ich mich zum
nächsten Beichtstuhl, in dem ein älterer Pfarrer saß, der mich bereits seit längerem
durch das offene Fensterchen anstarrte.
Ich hatte nicht die Absicht zu beichten und als ich mich hinkniete, war ich mir
nicht klar darüber, was ich sagen sollte. Ich rezitierte die vorgeschriebenen Formeln
und wartete kurz ab, dann fing ich etwas verlegen an, die ersten Sünden aufzuzählen,
die mir so einfielen. Ich hatte das Gefühl, wieder auf dem Gymnasium zu sein, wenn
der Lehrer dich unvorbereitet erwischt und dich drannimmt, und du dich mit viel Phantasie
durchschlägst. Am Anfang ist es schwierig, aber dann sprudeln die Worte immer
schneller heraus:
„...und seit ich meine Gewohnheiten geändert habe, merke ich, dass ich mich nicht
mehr so um die Leute in meinem Umfeld kümmere, wie ich möchte. Ich bin seit ein
paar Monaten umgezogen und zwischen Studium und sonstigen Verpflichtungen habe
ich keine Zeit mehr für die anderen.“
Der Priester lächelte mir verständnisvoll zu.
„Ich weiß, wie schwierig eine Lebensumstellung sein kann. Wie kannst du verlangen,
anderen zu helfen, wenn du selbst fast mehr Hilfe als die anderen brauchst? Nimm
dir deine Zeit, bitte den Herrn, er möge dir Kraft schenken, finde dein Gleichgewicht,
und verlange nicht, die Probleme der anderen zu lösen, wenn du dabei deine eigenen
vergisst. Jetzt geh’, belüge dich nicht selbst und du wirst sehen, dass sich mit Gottes
Hilfe alles regeln wird.“
Vielleicht sagte er mir diese Worte nur, weil er mich aufgewühlt und einsam sah,
oder es ist die Routineformel für solche Fälle, dennoch drangen die Worte tief in mich
ein. Als ich ins Studentenheim zurückkehrte, war es schon dunkel, und ich zog mich
auf mein Zimmer zurück, um zu überlegen.
Ich hoffe, Ihr könnt jetzt die Gründe für meine Wahl etwas besser nachvollziehen.
Mir tut es mehr weh, als Ihr denkt, dass ich Euren Erwartungen nicht gerecht werde,
aber ich muss mich selbst wiederfinden und es schaffen, neu anzufangen.
Ihr habt mir eine lange Reise vorgeschlagen, doch ich glaube, das wäre nur rausgeworfenes
Geld: Ich glaube nicht, dass eine Reise nach Tibet oder Indien meine Probleme
lösen würde.
Es mag Euch scheinen, ich hätte beschlossen, gegen den Strom zu schwimmen, in
einer Zeit, in der Religiosität oft mit Fanatismus verwechselt wird, und das Leben den
Regeln der Wirtschaft folgt: maximale Rendite bei minimalem Aufwand. Ich hingegen
finde, dass meine durchaus sehr anspruchsvolle Wahl (ich glaube nicht, dass es für Euch
leicht sein wird, Eure Tochter Gott zu überlassen, nur weil sie sich so entschieden hat),
einem großen und zerbrechlichen Geschenk gleichkommt, einem wahren Liebesakt.
Seit diesem Ereignis habe ich viel überlegt, und mich noch mehr von allem und
allen abgesondert. Die Müdigkeit erlaubte mir nicht mehr, mich im Geringsten zu verstellen,
und die neuen Freundschaften verließen mich nach kurzer Zeit.
Ich fing an, mich mehr mit den Nonnen zu unterhalten, mir ihre so unterschiedlichen
Geschichten anzuhören, und einen Teil meiner Zeit mit ihnen zu verbringen. Von
daher kommt die Entscheidung, meinen Weg als Novizin zu versuchen, um danach das
endgültige Gelübde abzulegen.
Meine Wahl ist keine Wahl aus Bequemlichkeit, im Gegenteil. Ich will nicht die Welt
verlassen, um mich in ein Kloster einzuschließen, ich will mich vollkommen der
Menschheit und Gott widmen und in ihm meine Kraft suchen.
Mama, Papa, ich habe nicht den Verstand verloren. Nur will ich nicht Anwältin werden
oder mein Leben ganz allein einem Mann, der mich liebt, oder meiner Familie widmen.
Ich muss mich selbst wiederfinden, und ich will es ohne Eure Hilfe tun, vorerst. Ich
habe mich schon erkundigt, in welchem Kloster ich beginnen darf, und hier unten findet
Ihr alle wichtige Angaben, falls Ihr Kontakt zu mir aufnehmen wollt.
Seid mir nicht böse, und versucht, meine Wahl zu verstehen, ich bitte Euch.
Ich habe Euch sehr lieb.
Eure Tochter.