Seconda edizione 2003 • terzo classificato seconda categoria

"Im gesamten Anstaltsgebiet Schrittempo…"

Stefan Wallisch

IL RACCONTO

„Im gesamten Anstaltsgebiet Schritttempo…” stand auf dem großen Gittertor, das jetzt langsam zur Seite fuhr. Ich hob nur zwei Finger vom Lenkrad, um mich beim Wächter zu bedanken. Mit der gleichen Beiläufigkeit erwiderte dieser mit einer Hand den Gruß, während er in der wohligen Wärme seines Wärterhäuschens die Zeitung weiterlas.

Der Nebel würde sich auch heute nicht heben. Es war schon Tag, aber überall brannte noch Licht. Seit Tagen hatte sich die Sonne nicht mehr gezeigt. Obwohl ein dünner Regen fiel, hielten es einige Patienten dennoch nicht drinnen aus und spazierten langsam, jeder völlig für sich allein, durch den Park. Die kahlen, schwarzen Bäume mit ihren langen Ästen verloren im nassen Morgenlicht ihre Konturen, und das tote Laub lag wie bunte Schatten um die Stämme. Hunderte Raben setzten langsam zum Flug an. Jeden Abend zog es sie unter lautem Gekrächzte hierher, als wüssten sie von diesem Ort der Beklemmung.

Ich war also wieder drinnen in dieser kleinen, nach außen hin abgeschnittenen Welt, deren Teil ich seit nunmehr sieben Monaten war. Das bedrückende Gefühl, das mich überkam, als ich die Kastanienallee zu meinem Pavillon entlang fuhr, hatte mich seit dem ersten Tag nicht verlassen. Als ich meinen Zivildienst antrat, war ich ein Eindringling auf dieser Insel der verletzten Seelen. War es zunächst die Ungewissheit darüber gewesen, was mich hier erwartete, die großes Unbehagen in mir auslöste, beherrschte mich nun diese unverdrängbare Angst, dass wieder etwas passieren könnte, was eine weitere Wunde in meiner eigenen Seele und in jener anderer hinterlassen würde – wie gestern...

Annis Zustand hatte sich in den letzten Wochen zusehends verschlechtert. Sie näherte sich wieder einem ihrer Zusammenbrüche, von denen ich in ihrer Krankengeschichte gelesen hatte und die mir so unvorstellbar erschienen waren, als ich begonnen hatte, mit ihr zu arbeiten. Sie war damals regelrecht aufgeblüht, als ihr ein "Zivi" zugewiesen wurde, um mit ihr zu rechnen und zu lesen.

Anni war um die 40, hatte aber den Geist eines kleinen Mädchens. Ihr Alter zu schätzen, war schwierig. Ihr Gesicht wie auch ihre Hände und Arme waren von zahllosen dünnen Narben bedeckt, und ihre Ohrläppchen waren eingerissen. Die dunkelblonden Haare waren bubenhaft kurz geschnitten. Sie trug gerne bunte Pullover und ihre blauen Augen blitzten manchmal auf wie jene einer jungen, lebensfrohen Frau.
Anni war akut „autoläsionistisch”, sie fügte sich selbst Wunden zu, so die Diagnose auf dem ersten Einlieferungsprotokoll, das – wie das Datum verriet – vor mehr als drei Jahrzehnten verfasst worden war. Sie war unfähig, Wut und Schmerz auszudrücken und richtete diese Gefühle deshalb gegen sich. Jedes Blatt in der dicken Mappe war nur ein weiteres Kapitel in ihrer Odyssee zwischen den zwei Leben, jenem draußen und jenem hier drinnen. Die Aufenthalte in der Anstalt dauerten immer länger, die Entlassungsscheine wurden immer seltener und hörten einmal gänzlich auf. Ihr Zuhause war seit langen Jahren die „Chronische”, meine Abteilung. Hier blieb, wer keine Brücken mehr zur anderen Welt hatte.

Ich hatte die Anzeichen des drohenden Zusammenbruchs durchaus wahrgenommen. Annis Handschrift war schlechter
geworden. Auf den ersten Seiten des blauen Heftes, das sie wie einen wertvollen Schatz in ihrem Nachtkästchen aufbewahrte, hatte sie noch wie eine Musterschülerin geschrieben, auf den letzten Seiten war ihre Schrift kaum noch zu lesen. Auch die einfachsten Rechenaufgaben, die sie vor wenigen Wochen noch problemlos bewältigt hatte, waren nicht gelöst oder falsch.

„ Wir haben das alles schon so oft erlebt. Lass’ dich davon nicht zu sehr mitnehmen, es hat keinen Sinn”, meinten die Pfleger beschwichtigend und selbstgefällig während der Kaffeepause.
Anni hatte auch wieder begonnen sich zu „ritzen”, wie sie es nannte. Mit jeglichem spitzen Gegenstand, den sie fand, schnitt sie sich in die Arme oder in das Gesicht. In ihrem manischen Vorhaben, an scharfe Sachen zu kommen, war sie erstaunlich listig. Eine weißhaarige Oberpflegerin erzählte, dass Anni als Kind aus dem Gitterbett geklettert war und aus großer Höhe einen Nagel aus der Wand gezogen hatte, um sich zu verletzen. Es sei für immer ein Rätsel geblieben, wie sie das angestellt habe.
„ Du schenkst ihr zu viel Aufmerksamkeit”, sagte sie und ihr mütterlicher Ton überraschte mich, „Sie schneidet sich nur, weil du da bist. Wenn du dich umdrehen und weggehen würdest, täte sie sich sicherlich nichts an.” In meiner Verzweiflung war ich gestern diesem Ratschlag gefolgt.

Anni stand mit dem Hals einer zerbrochenen Cola-Flasche am Gang und rief mir mit trotziger Stimme zu: „Schau, ich tu mich jetzt ritzen!”
„ Lass’ das, Anni. Ich habe keine Zeit für solche Spielereien”, erwiderte ich und drehte mich tatsächlich um und
ging zu den Stiegen. Als ich ihr auf den ersten Stufen einen flüchtigen Blick zuwarf, stand sie mit ausgestreckten Armen da, und Blut tropfte von den Handgelenken zu Boden.
„ Bist du mir böse?”, fragte sie ängstlich, als ich ihr mit groben Bewegungen notdürftig die Wunden abdrückte.

Anni lag jetzt in der Notaufnahme, für uns alle schlicht „Akut”. Zu dritt hatten wir kämpfen müssen, um die zierliche, kleine Frau in ihrem plötzlichen Tobsuchtsanfall an das Bett zu fesseln. „Lass’ mich nicht auf Akut”, schrie sie schrill, als die schwere Tür, die keine Klinke hatte und nur mit einem Schlüssel geöffnet werden konnte, hinter mir zufiel. Als ich fast beim Aufzug war, hörte ich sie noch meinen Namen rufen, dann begannen auch andere Patienten die so mühsam errungene Fassung zu verlieren.

Einer nach dem anderen stimmte in diesen schaurigen Chor des Leidens ein. Pfleger eilten über den Gang. Ich unterdrückte die Tränen und den Brechreiz, der mich überkam, und ging weiter.

Schon mehrere Minuten saß ich im abgestellten Auto, starrte auf das Armaturenbrett und stieg nicht aus. Ich erschrak, weil ich zitterte. Als ich den Blick aus dem Seitenfenster hob, sah ich Kurt dicht bei meinem Auto stehen.
Er trug wie jeden Tag seine schmutzige Anstaltskleidung und Speichel tropfte über seine hängende Unterlippe auf das dunkle Hemd. Seine Haare hingen nass in die Stirn. Unsere Blicke trafen sich. In all den Monaten war es mir nicht gelungen, einen Kontakt zu diesem gutmütigen aber sehr verschlossenen Mann herzustellen. Heute sahen wir uns
an und verstanden uns. Zu meiner Verwunderung las ich in seinen Augen Mitleid. Hatte er alles verstanden? Hatte er meinen inneren Kampf erfasst? Ich weiß nicht, wie lange wir uns angeblickt haben. Ich kann mich nur erinnern, dass ich mit einem Ruck aus dem Auto ausstieg. Als ich zum grauen Pavillon ging, und er mir still folgte, meinte ich noch: „Kurt, ist dir nicht kalt hier draußen?” Keine Antwort.