Ottava edizione 2015 • terzo classificato sezione inediti

In der Schwebe

Caterina De Marchi • Übersetzungen von Juliana De Angelis

Caterina De Marchi

Ich bin fast sechzehn Jahre alt. Meine Biografie in mehr oder weniger zehn Zeilen zu verfassen war die schwierigste Aufgabe, die mir je erteilt wurde und deshalb bereue ich es jetzt bitter, dass ich mit meiner Erzählung am Literaturpreis Frontiere-Grenzen mitgemacht habe (ich mag es nicht, wenn ich mich anstrengen muss).
Seit ich geboren bin, lebe ich im östlichen Suganertal, auch wenn ich seit zweieinhalb Jahren in Trient zur Schule gehe. In meiner Freizeit spiele ich elektrische Gitarre, lese und schwimme.
Im letzten Jahr habe ich die Möglichkeit gehabt, mit der Realität der Immigration in Berührung zu kommen und habe verschiedene Personen, die internationalen Schutz beantragen (die sogenannten „Flüchtlinge“) kennengelernt. Mit meiner Familie haben wir nämlich zu Hause einige Menschen aufgenommen und im Sommer habe ich außerdem einige „Flüchtlingsjungen“ kennengelernt, die nur wenig älter als ich sind und in meiner Nähe wohnen. Diese Erfahrungen haben auch meine Art zu schreiben verändert: In letzter Zeit achte ich mehr auf die Charakterisierung der Figuren und versuche im Allgemeinen, mich mehr in die anderen hineinzuversetzen.
Ansonsten habe ich nicht viel zu sagen.
Mein Lebenslauf wird sonst zu lang.
An diesem Dienstag, bei Sonnenuntergang.

LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA

Die Erzählung sticht aufgrund ihrer essentiellen, präzisen Sprache hervor; aufgrund des gelassenen Rhythmus, im Einklang mit dem selbstvergessenen Nachdenken der Hauptfigur, ein junger Afrikaner, der erst seit Kurzem in einem unbekannten und nicht besonders freundlichen Italien gelandet ist. Verstörtheit und Melancholie bilden den Kontrapunkt zu seinem beängstigten Innenleben, und die evokatorische Kraft des Schreibstils vermag es, seine geheimsten Gedanken zu schildern und zu vermitteln. Das Ergebnis ist eine reife Erzählung, die trotz des eng gesteckten örtlichen und zeitlichen Rahmens gekonnt entwickelt wird. Eine Geschichte, wie es heutzutage viele in diesem Land gibt, schmerzvoll, versteckt, unbekannt. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann „in der Schwebe“, der in einer eigenen inneren Welt aus Warten und tiefer Erschöpfung lebt. Jemand, den wir aufgrund der Qualität der Erzählung zu kennen, zu sehen und unterstützen zu wollen scheinen.

IL RACCONTO

Warten. Auf die Papiere warten. Auf das Pocket Money warten. Auf dem Polizeipräsidium warten. Ich überlege. Überlege, auf einer Bank sitzend. Überlege und beobachte. Beobachte die Schüler an der Bushaltestelle, auch sie warten, aber sie sind sicher, dass sie zu Hause ankommen werden, früher oder später, ich warte und habe Angst. Ich habe Angst wegen der Kommission. Die von der Ausländerbehörde haben mir gesagt, dass die Chancen gut stehen, dass ich Asyl bekomme, aber ich traue dem Braten nicht. Ich traue ihnen nicht, denn ich kann es mir nicht leisten, jemandem zu trauen nach alldem, was ich habe durchstehen müssen, niemand von uns kann irgendeinem trauen. Außerdem kann ich nicht schreiben, deshalb verstehe ich nicht und traue niemandem. Ich traue meinen Freunden, aber nicht allzu sehr, die Einzige, der ich vertraue, ist die Lehrerin vom Italienischkurs, denn weiß oder schwarz zählt bei ihr nicht, es geht nur darum, gut zu sein. Und sie ist es. Das verstehe ich, wenn sie mich all die Buchstaben, all die Worte, in denen ich mich verliere, aufschreiben lässt und sie mich geduldig anschaut, bevor sie zu den anderen geht und ihnen mit genau derselben Aufmerksamkeit hilft.
Sie ist schön, die Lehrerin. Sie hat schwarze, lange Haare und braune Augen. Sie ist nicht viel kleiner als ich, aber ich bin groß. Ich mag es, an ihr vorbeizugehen, die Fotokopien aus ihren Händen zu nehmen und sie zu beobachten, während sie sich bewegt, erklärt, schreibt, unsere Hefte korrigiert. Viele der Jungs stellen sich dumm an, sie denken, dass die Schule nichts nützt und verbringen die Stunde damit zu telefonieren, rumzualbern und auf Google Translate nach italienischen Schimpfwörtern zu suchen. Einmal war auch ich müde und habe ein bisschen Zeit vergeudet, aber die Lehrerin hat mich erwischt, ist in Windeseile zu mir gekommen und hat mir mit ihren zarten Fingern das Handy aus der Hand genommen. Am Ende der Stunde hat sie es mir zurückgegeben, und ich musste daran denken, wie schön sie doch ist… aber sie ist zu alt für mich, sie ist sechsunddreißig, während ich zwanzig bin, vielleicht jedenfalls. Niemand hat sich je darum gekümmert, mein Geburtsdatum einzutragen, vielleicht bin ich jünger, vielleicht auch älter, ich weiß es nicht. Meine einzigen Gewissheiten sind meine Reisen. Ich habe die Wüste durchquert, um dem Elend zu entkommen und dann das Meer, um vor dem Krieg zu flüchten. Und nun bin ich hier, in einer Gegend mit Bergen und grünen Tälern, mit wenig Einwohnern und kleinen Städten. Ich bin zufällig hier gelandet, in Sizilien haben sie uns aufgeteilt, und ich bin hier gelandet und muss jetzt warten, wie ich an jedem anderen Ort auch warten müsste. Warten. Warten ist mein Schicksal. Denke ich.
Ich lebe in einem Containerlager, weil ich erst vor Kurzem angekommen bin, aber wenn ein Platz frei wird, stecken sie mich vielleicht in eine kleine Wohnung in einem kleinen Ort in ein von Gott vergessenes Tal. Im Lager habe ich ein paar Freunde und die Schule, aber ansonsten geht es mir nicht gut. Wir schlafen zu zwanzig in einem Container, die Etagenbetten dicht aneinander. Ich schlafe oben, aber der unter mir wäscht sich nicht so oft die Füße, deshalb bin ich nicht gerne hier. Und draußen gibt es Leute, die sich beschweren, weil sie sagen, dass wir Geld stehlen, deshalb bin ich nicht gerne hier. Und wir sind viele hier, es gibt nie einen Rückzugsort, deshalb bin ich nicht gerne hier. Und ich könnte noch einen Haufen anderer negativer Dinge auflisten, und deshalb bin ich nicht gerne hier. Warum findet man keinen anderen Ort für uns? Weil die Italiener uns nicht wollen? Was haben wir denn Böses getan? Ich beschwere mich nicht, weil ich weder Zeit dafür noch Lust darauf habe, und ich will auch keinen stören, aber ich frage mich, warum die Menschen Angst vor uns haben. Ich bin nicht böse. Ich bin kein Dieb. Ich bin schwarz und Moslem, aber ich bin nicht anders  als andere Menschen. Ich bin lediglich ein Asylant.
Meine Tage verstreichen langsam. Ich stehe früh auf, weil es nicht gut ist, zu viel zu schlafen. Von 8.30 bis 10.30 Uhr gehe ich zur Schule. Dann mache ich nichts. Ich warte auf die Essenszeiten. Spiele mit dem Handy. In fünf Monaten werde ich arbeiten können, in der Zwischenzeit denke ich nach. Ich denke an die Reise. Ich habe noch die Wellen vor Augen, den Geruch von Salzwasser, meine spröden Lippen, das Boot voller Leute. Vierhundert sind gestorben. Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche wie ich. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht auch gestorben bin oder ob nicht ein Teil von mir auf dem sinkenden Boot geblieben ist. Ich wollte wie die anderen in den Wellen sterben, aber dann habe ich an meine Mutter gedacht und an meine zwei jüngeren Brüder. Sie brauchen mich. Oft ruft mich meine Mutter an um zu fragen, wie es mir geht, und ich bin froh, ihre weibliche Stimme zu hören, die ich immer mit einem Geruch von Milch und Essen verbinde. Ich weiß, dass sie Geld bräuchte, aber sie lastet mir nicht noch eine weitere Bürde auf und tröstet mich, sie sagt mir, dass bald alles besser sein wird. Ich hätte gerne, dass sie hier wäre, ich bräuchte jemanden, der mich lieb hat.
Die Sozialarbeiter sind in Ordnung und helfen uns. Aber ich traue ihnen nicht. Ich weiß, dass sie uns 17,50 Euro pro Woche geben sollen und passe auf, dass das Geld stimmt, zumindest soweit ich zählen kann. In Wirklichkeit geben sie uns nur 10 Euro auf die Hand, der Rest sind Gutscheine, die wir im Tabakladen für Telefonaufladungen und Zigaretten einlösen können. Aber ich rauche nicht und telefoniere wenig, deshalb versuche ich, sie bei den anderen gegen Geld einzutauschen. Das erste Mal, als sie uns die Gutscheine gebracht haben, wollte ich dem Sozialarbeiter sagen, dass ich sie höchstens als Klopapier benutzen kann, aber ich will mich nicht beschweren. Ich will nicht diejenigen, die für uns arbeiten, beleidigen. Ich will nicht zeigen, dass ich ihnen nicht traue. Meine Freunde haben gemerkt, dass ich mich auch bei ihnen nicht sicher fühle, aber im Grunde sind auch sie so wie ich. Sie können es sich nicht leisten, jemandem zu trauen. Ich passe auf, dass man mich nicht in allem reinlegt, weil ich weiß, dass es leicht ist, einen wie mich zu beschwindeln, auch wenn ich groß bin und böse dreinschaue. Viele meiner Freunde gehen zur Psychologin, aber ich will da nicht hin, weil ich niemandem trauen kann. Sie sagen, dass sie gut ist, und ich glaube es; aber wenn es mir schlecht geht, rufe ich lieber meine Mutter an. Es tut mir leid, dass sie mitbekommt, dass ich hier in Europa nicht glücklich bin, aber sie ist nicht wie die Mütter der anderen, nicht eine, die nur auf Geld aus ist, sie ist nicht so verzweifelt und schafft es auch, jeder Schwierigkeit zu trotzen. Sie ist eine starke Frau, meine Mutter, ich spüre das, seit ich geboren bin, und deshalb mache ich mir weniger Sorgen um meine Familie als die anderen: Ich weiß, dass sie, bis ich eine Arbeit finde, irgendwie zurechtkommen wird.
Manchmal nehmen wir den Bus und fahren in die Stadt. Ich gehe gerne mit den Freunden durch die Innenstadt. Ich mag den Kontrast zwischen den verkehrsreichen Straßen und den einsamen Bergen, die seitlich das Tal begrenzen. Ich mag es, Menschen zu sehen und ich merke, dass viele mich nicht böse anschauen. Ich mag es, wenn jemand mir zulächelt und ich mag es, zum Gebet zu gehen. Eigentlich gehen wir selten dorthin, weil niemand meiner Kumpels besonders religiös ist, aber wenn wir zusammen mit vielen anderen beten, fühlen wir uns akzeptiert. Es ist schwierig, sich wohl zu fühlen. Wir sind Schwarze in einem Land von Weißen, Muslime in einem Land von Christen. Viele Menschen legen Wert auf diese Unterschiede, und darüber bin ich nicht froh. Ich bin ein Asylant, aber in erster Linie bin ich ein Einwanderer. Ich werde beschuldigt, hier zu sein, um Arbeitsplätze wegzunehmen, aber ich bin lediglich aus einem Land geflüchtet, wo das Leben unmöglich geworden war. Wenn ich meine Papiere bekomme, fahre ich vielleicht weiter in reichere Länder und werde nicht hier in den Bergen bleiben, aber bis dahin versuche ich mich einzugewöhnen, man weiß ja nie. Meine Freunde sagen, dass man, wenn man in Italien heiratet, hierbleiben darf, deshalb schauen sie sich um, wenn sie ausgehen. Aber ich weiß nicht, ob den Mädchen Loser wie wir gefallen. Wir tragen die Marke Caritas vom T-Shirt bis zu den Schuhen, und wir schlafen in Containern zusammen mit neunzehn anderen Männern. Einmal habe ich einen gesehen, der sich das T-Shirt auszog und habe mich dabei ertappt, dass ich es nicht uninteressant fand, ihn anzuschauen, es war ein gutaussehender junger Mann. Ich musste raus an die Luft, das Ganze hatte mich verstört. Es war nur ein vereinzeltes Erlebnis, aber ich war sehr erschrocken und habe begriffen, dass meine Freunde nicht nur wegen der Papiere heiraten wollen, sondern auch, weil sie Angst haben, zu viele Monate unter Männern zu bleiben. Ich versuche ihnen jedenfalls immer klarzumachen, dass sie nicht viele Chancen haben, ihre bessere Hälfte zu finden.
Abends überkommt mich die Sehnsucht wie bei Kindern, wenn sie außer Haus schlafen. Alles beginnt mit dem Sonnenuntergang, wenn die Sonne die Bergspitzen orange färbt und der Himmel beginnt, sich in kräftigen Farben einzukleiden, die allmählich dunkler werden und sich schließlich in eine große blaue Decke verwandeln. Die Reflexe der Wolken erinnern mich an meine Mutter, wie sie mir das Essen zubereitet, an die Stimmen meiner kleinen Brüder, während sie auf der staubigen Straße spielen, und an die Geräusche in den Nachbarhäusern. Oft bin ich gerührt und dann gehe ich aufs Klo, um alleine zu sein. Wenn ich merke, dass ich weine, schäme ich mich ein wenig: Ich bin hier und mir geht es gut, meine Familie hingegen lässt derzeit sicherlich ab und zu eine Mahlzeit aus. Ein paarmal habe ich meine Mutter angerufen, um mich von ihr trösten zu lassen, aber damit erreiche ich genau das Gegenteil, und wahrscheinlich fühlt sie sich genauso wie ich. Eines Tages hat mich ein Freund aus dem Bad kommen sehen und bemerkt, dass ich traurig war. Er hat gelacht. Sie lachen, weil auch sie leiden, aber sie können nicht mehr weinen und deshalb müssen sie zur Psychologin und nehmen diejenigen auf den Arm, die es alleine, mit ein paar Tränen hier und da schaffen. Sie können lesen, schreiben und zählen, ich nicht. Niemand hat es mir je beigebracht, bevor ich herkam. Aber sie haben mir beigebracht zu weinen und auf die richtige Art und Weise Dampf abzulassen, während meinen Freunden dieses Thema völlig fremd ist. Ich lasse Dampf ab, indem ich laufe oder Musik höre, sie hingegen, indem sie sich treffen und  blöd rumlabern und sich alte Liebesgeschichten erzählen, die mehr oder weniger im Moment erfunden sind. Aber auch ich mache da gerne mit und höre mir diese absurden Geschichten an, es macht Spaß, aber an einem Ort mit so vielen Menschen verspüre ich auch das Bedürfnis, alleine zu sein.
Und am Ende warte ich, bleibe still und warte. Warte und denke nach. In den letzten Monaten war mein Leben ein einziges Warten. Ab und zu gehe ich aufs Polizeipräsidium. Ab und zu gehe ich in die Stadt. Ab und zu gehe ich laufen. Oft habe ich Angst. Oft weine ich. Oft habe ich kein Vertrauen in mein Gegenüber. Jeden Tag esse ich. Jeden Tag gehe ich zur Schule. Jeden Tag spreche ich mit meinen Freunden. Nachts schlafe ich. Ich schlafe, träume aber nicht. Ich schlafe mit zu vielen Menschen unter einem Dach und habe Angst, dass mir jemand den Traum nimmt. Deshalb träume ich tagsüber, im Bad eingeschlossen oder in einer Ecke sitzend. Ich träume von einer Arbeit. Davon, dass meine Familie sich nicht sorgen muss, kein Geld mehr  zu haben. Träume davon, dass meine Geschwister zur Schule gehen können, dass meine Mutter mich besuchen kommen und für mich kochen kann. Ich träume davon, mich ohne Sorgen ausruhen zu können, davon, von der Arbeit zurückzukehren und ein schönes Buch zu lesen. Mich interessiert es nicht, ob ich in Italien, in Deutschland oder in England wohne, alles, wovon ich träume, ist ein Leben. Ich habe dieselben Träume wie jeder junge Mann und möchte sie verwirklichen. Verlange ich zu viel? Von meinen Träumen angetrieben habe ich die Wüste durchquert. Und als ich die Wellen habe angehen müssen, habe ich träumen müssen. Ein zwanzigjähriger Junge. Kann ich nicht sein wie alle anderen, unabhängig davon, wo ich geboren wurde? Ich habe keine Lust mehr zu träumen. Ich habe Lust, meine Träume zu leben.