Ottava edizione 2015 • segnalato sezione inediti

Das Verschwinden der Welt

Helwig Brunner

Helwig Brunner

Helwig Brunner, geboren 1967, Studien der Musik und Biologie, lebt in Graz. Arbeitet als Autor und Herausgeber sowie als Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros. Neuere Bücher (Auswahl): Denkmal für Schnee (Neue Lyrik aus Österreich Band 10, Verlag Berger 2015), Die Kunst des Zwitscherns (Essays, gemeinsam mit Kathrin Passig und Franz Schuh, Residenz Verlag 2012), gemacht/gedicht/gefunden. über lyrik streiten (poetologische Debatte, gemeinsam mit Stefan Schmitzer, Literaturverlag Droschl 2011), Vorläufige Tage (Prosagedichte, Leykam Verlag 2011), "Süßwasser weinen" (Gedichte, Sonderzahl Verlag 2008). Beiträge in Anthologien wie Jahrbuch der Lyrik (zuletzt 2015 bei DVA), Lyrik von Jetzt (DuMont) und New European Poets (Graywolf Press) sowie in diversen Zeitschriften (Literatur und Kritik, manuskripte, Edit, Ostragehege, Lettre Internationale u. a.). Herausgeber der Buchreihe keiper lyrik, Mitherausgeber der Zeitschrift Lichtungen. Einige Preise und Förderungen, zuletzt Literaturstipendium der Stadt Graz 2014, Arbeitsaufenthalt in der Autorenwohnung der Literar-Mechana in Venedig 2014, Projektstipendium des österreichischen Bundeskanzleramtes 2014/15. Näheres auf http://helwigbrunner.jimdo.com

IL RACCONTO

Die Grenzen meiner Sprache
bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Ludwig Wittgenstein

Der erste Satz ist für Ferdinand nie ein Problem. Es ist ihm leichtgefallen, unlängst die Rothaarige unten in der Bar anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn seine Ex-Frau anruft oder die Zeugen Jehovas vor der Tür stehen, ist er nicht um wirkmächtige Worte verlegen, die gerade so viel oder so wenig Wahrheit enthalten, dass sie drohendes Ungemach abwenden, ohne ein anderes heraufzube­schwören. Anekdoten über derartige Vorkommnisse erzählt er im Freundeskreis ausführlich und unterhaltsam. Ja, er fühle sich wohl im geringen Mantel der Worte, behauptet er dann nicht ohne Koketterie und fügt hinzu: Nicht von mir. Von Srečko Kosovel, dem slowenischen Dichter, mit zweiundzwanzig nach einer Erkältung gestorben. Hat wohl vergessen, den Mantel anzuziehen.
Wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragt, sagt er: Schriftsteller. Der Rothaarigen, seiner dementen Mutter und seinem Therapeuten hat er so geantwortet. Was er denn mache? Ob endlich etwas Anständiges aus ihm geworden sei? Ob er seinen Beruf als erfüllend erlebe? Nun ja, ich bin Schriftsteller. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, auf die Frage nach dem Beruf immer dieselbe Antwort zu geben, aber das Problem oder die Pointe dabei ist, dass Ferdinand nicht mehr schreibt. Bis vor Kurzem hat er es noch getan und Bücher veröffentlicht, eines aus lauter ersten Sätzen nicht ausgeführter Romane bestehend, eines mit Kurzgeschichten und schließlich vor kaum einem Jahr dann doch einen schmalen Roman, wie der Verlag es gewünscht hatte. Wie viele andere hat er ein paar kleinere Literaturpreise bekommen, was von gewissen Hoffnungen zeugt, die man in sein Schreibtalent gesetzt hat. Aber damit ist es vorbei. Auch wenn es ihm nicht am Handwerkszeug mangelt, gibt es doch nichts mehr, was er schreiben kann, und keinen vernünftigen Grund, es dennoch zu versuchen. Deshalb werden jedes Mal, wenn ihm der Schriftsteller über die Lippen kommt, diese ein wenig blass, vielleicht aus Angst vor der zweiten Frage, die meist nicht lange auf sich warten lässt: Und was schreiben Sie? Doch die Blässe fällt niemandem auf, und er selbst sieht sie jetzt zum ersten Mal im Badezimmerspiegel: Und was schreibst du? Gar nichts, antwortet er sich selbst, nichts mehr, wie sollte ich auch.
Für gewöhnlich nennt er an diesem Punkt der Unterhaltung die Titel seiner Bücher, und niemand bemerkt die wie beiläufige Verwechslung der Frage, was er schreibe, mit jener, was er geschrieben habe. Man kann es ihm sogar positiv anrechnen, dass er nur von dem spricht, was bereits gedruckt vorliegt, und nicht über ungelegte Eier, wie andere, von der eigenen Arbeit berauschte Schriftsteller es gerne tun. Gelegentlich ist dennoch mit der dritten Frage zu rechnen: Und darf man erfahren, woran Sie derzeit arbeiten? Ach, das ist noch nicht spruchreif, lässt sich darauf ausweichend antworten, was dann die erste glatte Lüge ist, denn nichts Spruchreifes ist etwas völlig anderes als nichts. Aber bloß eine Lüge unter drei Antworten ist für die meisten Anlässe, bei denen einem solche Fragen gestellt werden, ohnehin ein guter Schnitt.
Ferdinand betrachtet sein blasshäutiges Gesicht, das von struppigem, an den Schläfen und im Bart schon ein wenig angegrautem Haar umgeben ist. Für Augenblicke sucht er in seinen Zügen nach denen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Schwester; mit wenig Erfolg. Seinem Hund sieht er ähnlicher, findet er, doch der ist letztes Jahr gestorben. Er lässt sein Spiegelbild in die Unschärfe entgleiten und betrachtet nun die Wassertropfen an der Scheibe, versucht herauszufinden, ob sie abwärtswandern oder stillstehen, nahezu stillstehen wie das Glas selbst, von dem es heißt, es fließe langsam, fast unendlich langsam an sich selbst herab. Von Zeit zu Zeit löst sich ein Tropfen aus seiner Erstarrung und läuft rasch an der Scheibe hinunter, um an ihrer unteren Einfassung anzuhalten, auf weitere ankommende Tropfen zu warten und gemeinsam mit diesen ins Waschbecken zu fallen. Der ganze Vorgang von der Loslösung eines Tropfens bis zu seinem Verschwinden im Abfluss dauert kaum eine Minute, vielleicht auch weniger und sicherlich nicht immer gleich lange. Eine ungefähre Minute, in der Ferdinands Gedanken aussetzen und er sich, ganz aufgehend in der Beobachtung des immer gleichen und doch im Einzelnen unvorhersehbaren Geschehens, ausruhen kann von sich selbst.
Ferdinand ist heute wieder bei seiner Mutter gewesen. Seit der Einsicht vor einigen Monaten, dass sie zu einem selbstständigen Leben nicht länger imstande war, und ihrer Übersiedlung in das Heim hat ihr Zustand sich weiter verschlechtert. Es handle sich um fortschreitende degenerative Prozesse vom Alzheimer-Typ, hat der behandelnde Arzt ihm erklärt, zusätzlich habe man Arterienverkalkungen festgestellt und vermute außerdem die Spätfolgen eines leichten, unbemerkt gebliebenen Schlaganfalls. Das alles ist im Grunde trivial, man muss es hinnehmen, wie es ist, immerhin ist die Mutter weit über achtzig. Was Ferdinand sich aber fragt, ist, ob das geistige Absterben seiner Mutter etwas mit seinem eigenen Ende als Schriftsteller zu tun hat, ob das eine der Grund für das andere und das andere auf irgendeine Weise die Folge des einen ist. Vielleicht ist er dabei, sich eine Ausrede für sein Scheitern zurechtzulegen, aber Tatsache ist, dass das Gespräch mit der Dementen ihm allen Grund gibt, an der Sprache und ihrer Anwendung zu verzweifeln.

• Ach, du bist es, Ferdinand. Endlich kommst du einmal zu deiner alten Mutter.

• Schön, dass du mich erkennst, Mama.

• Gestern war dein Vater hier. Mit ihm musste ich auch schimpfen, weil er mich nie besucht.

• Papa kann dich nicht besuchen, Mama. Papa ist tot. Ich war gestern hier.

• Aber solltest du denn nicht in der Arbeit sein? Du wirst noch deine Anstellung verlieren. Du bist doch noch bei der Versicherungsanstalt?

• Ich bin Schriftsteller, Mama. Ich kann mir meine Arbeitszeit frei einteilen. Papa war Angestellter bei der Anstalt, die uns dann seine Lebensversicherung nicht auszahlen wollte, erinnerst du dich?

• Angestellter, ja. Schriftsteller ist kein Beruf. Aber im Rechnen warst du immer der Beste.

• Du meinst meine Schwester, Mama, damals in der Schule. Ich war schon immer ein lausiger Rechner.

• Was für begabte Kinder ich doch habe. Gott sei’s gedankt! Dein Vater wird stolz auf dich sein. Was willst du eigentlich einmal werden?

Ferdinand fokussiert auf sein Spiegelbild und sieht seine Lippen zittern. Er hat das Gefühl, dass die zerrüttete Gedankenwelt der Mutter in Trümmern auf ihn einstürzt: die Trümmer ihrer lebenslangen Herrschaft. Seine Freunde hatten immer schon die Köpfe geschüttelt, doch erst der Therapeut, den er seit der Scheidung aufsucht, hat ihm die Machtspiele der Mutter vor Augen geführt. Ferdinand weiß, dass ihre wirren Aussagen und Antworten nur wenig Realitätsbezug haben, dass es bloß noch Zerrbilder sind, die durch die trüben Linsen ihres kranken inneren Auges sickern, doch wie eh und je bestimmen allein ihre Sätze das Gespräch, das er mit ihr führen kann, auch wenn es diese Bezeichnung kaum noch verdient. Und wie es offensichtlich ist, dass ihr die Welt längst aus der Sprache gefallen ist, so scheint diese Welt sich nun auch ihm unter den Füßen wegzudrehen und ihm eine gesichtslose Rückseite zuzuwenden, die sich seiner Eloquenz entzieht und sich jede Anrede verbietet. Er sieht alles zerfallen, worauf er sein Schriftstellerdasein einmal errichtet geglaubt hat, sieht, dass es längst nicht nur die löchrige Sprache ist, die ihn nicht mehr wärmt; auch das Denken droht ihm den Dienst zu quittieren. Sein eigenes Bild im Spiegel gerät ihm zum grotesken Auftritt einer unbekannten Figur in einem unbekannten Stück.
Ein Wassertropfen löst sich. Du machst es dir zu leicht, spricht Ferdinand in den Spiegel hinein. Er weiß, er darf sich der Krankheit der Mutter nicht so haltlos überlassen. Dennoch sieht er jetzt klar, was er seit geraumer Zeit geahnt hat: dass es sinnlos ist, Geschichten zu erzählen, die letztlich doch nur dieselbe Ratlosigkeit wiederholen können, die er auch der Wirklichkeit gegenüber – was immer das sein mag: Wirklichkeit – zunehmend empfindet. Während er das Badetuch vom Wandhaken nimmt und seinen Körper trockenreibt, fallen ihm Stellen aus Büchern ein. Manche sind ihm wörtlich im Gedächtnis geblieben, andere mehr oder weniger deutlich ihrem Inhalt nach. Ferdinand erinnert sich an die unheilvolle Ahnung, ja Angst, die ihn beim Lesen befiel, so als hätte er damals – vor Monaten, zum Teil vor Jahren – schon vorhergesehen, dass das Gelesene sich einmal in aller Härte gegen ihn wenden würde. Er kleidet sich hastig an, geht ins Arbeitszimmer, blättert in seinem Notizheft und zieht einige Bände aus den Regalen. Er liest wieder, was er schon kennt, liest von der Willkür jeder verbalen Zuschreibung, der trügerischen Übersetzung der Welt in Worte, dazu im Heft seine eigene Bemerkung zur heillosen Selbstbezüglichkeit einer das Sprechen ergründenden Sprache. Er liest von der haltlosen Unterscheidung zwischen Ich und Welt, von der unmittelbaren Gegenwart, die das Denken und den Denker untergräbt, von der Wahrnehmung, die entlarvt ist als schiere Konstruktion der Sinne und des Gedächtnisses, von der Sprache, deren Grenzen zugleich jene der Welt bedeuten. In allen Büchern findet er nur noch ihre Selbstabschaffung, ihren Abgesang auf sich selbst, auf das Schauen, Denken und Sprechen. Den ganzen Abend, die halbe Nacht lang raunen ihm die großen Namen ins Ohr, dass er kein Narr sein soll. In seinem Kopf beginnt es zu rauschen, zu dröhnen, zu klingeln, zu läuten. Das Telefon. Das Telefon!
Vielleicht die Rothaarige, fällt ihm ein, wie hieß sie doch gleich, immerhin haben sie Nummern getauscht. Er erreicht den Anruf nicht mehr, aber die Nachtschwester aus dem Pflegeheim hinterlässt eine Nachricht. Ferdinand ruft zurück und erfährt, dass seine Mutter nach einem schweren Schlaganfall verstorben ist. Schlafen Sie erst einmal und kommen Sie morgen im Lauf des Tages, sagt die Schwester; Sie können hier ja nichts mehr tun. Benommen geht Ferdinand zurück ins Arbeitszimmer. Wie ein Wassertropfen fällt sein Blick auf eine Buchseite, die er vorhin im Moment des Anrufs aufgeschlagen hat, und liest da in verschwimmenden Zeilen von der Sprache überhaupt und von der Sprache des Menschen. Sind nicht noch Lieder zu singen jenseits der Menschen? Weitere Tropfen fallen, Ferdinand bemerkt, dass er weint. Er fühlt sich jetzt sentimental, verletzt, erleichtert. Ich ginge gern im geringen Mantel der Worte, sagt er leise.

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