BÖse Schatten
Alberto Nessi • Übersetzungen von Juliana De AngelisAlberto Nessi
Alberto Nessi ist 1940 in Mendrisio geboren und in Chiasso aufgewachsen. Er hat die Lehrerbildungsanstalt in Locarno und später die Universität in Freiburg besucht, und war als Lehrer tätig. Er ist Dichter und Erzähler. Heute lebt er in Bruzella, im Muggiotal. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen sechs Gedichtbände (der jüngste ist Ladro di minuzie. Poesie scelte 1969-2009, Casagrande Bellinzona 2010), sechs Erzählbände (zuletzt Miló, Casagrande, Bellinzona 2014, eine Anthologie von Schriften und Zeugnissen über die italienische Schweiz) und Bücher in Zusammenarbeit mit Künstlern. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
BegrÜndung der Jury
"Manchmal trifft das Gebirge einen ins Herz, träufelt böse Schatten in die Adern des Bergbewohners". Diese Worte, die auf der ersten Seite der Erzählung vorkommen, erinnern vielleicht an andere, berühmte Werke ("Das Meer ist bitter und ein Seemann stirbt auf See": G. Verga, Die Malavoglia), vor allem aber geben sie das Gefühl der Tragik wieder, das den erzählten Geschehnissen innewohnt: Ein Schäfer aus dem Aostatal, dessen Name reell und metaphorisch zugleich ist (Ultimo – zu Deutsch: "Der Letzte") ist verschwunden, vielleicht hat er sich das Leben genommen, vielleicht ist er in einen Abgrund gestürzt; irgendetwas war in seinem Leben schiefgelaufen, und einige Dorfbewohner sprechen streng und missgünstig über ihn. Nicht so hingegen die Figur, die sich ich nennt, jemand von außerhalb, der im Ort umherläuft, dessen Geschichten aufzeichnet, bereit ist, in die Vertraulichkeiten der Menschen eingeweiht zu werden, wenn auch nur wegen dem "kurzen Genuss, sich unter den anderen lebendig zu fühlen". Die Bereitschaft zum Zuhören erreicht ihren Höhepunkt am Ende der Erzählung, wo die Ich-Figur plötzlich schweigt, und schließlich Ultimos Tochter das Wort ergreift. Mit ihrer Erzählung, einem naiven Traum von Glück und Erlösung, geht eine Veränderung des Stilregisters einher: Der Lyrismus erlebt eine Steigerung, und der Leser taucht nach der anfänglich realistischen Schilderung des Dorfes nun regelrecht in ein Gemälde von Chagall ein: "…mein Papa ist ein freier Mann und fliegt über den Ginster bis ans Ende der Welt mit seinen Kühen, die den Kuhkampf gewonnen haben und die Königinnen sind". Alberto Nessi hat hiermit eine polyphonische Erzählung geschrieben die, kurz wie sie ist, eine vollständige kleine Welt von Menschen, Tieren und Pflanzen enthält. Sie ist mit der Anmut und menschlichen Sympathie von jemandem geschrieben, der das Leben der kleinen Leute kennt und respektiert.
IL RACCONTO
Sie finden Ultimo nicht mehr. Die Forstpolizei beobachtet den Flug der Raben über den Felsspalten bei Gaby, wo Ultimo zum letzten Mal gesehen wurde. Es sind Gerüchte in Umlauf: … er hat die Kälber mit Rattengift vergiftet …, … in letzter Zeit machte er nicht einmal mehr Käse; … er hatte Probleme mit denen in Aosta; … als er Mitte Juli seine Frau auf der Alp ankommen sah, ist er abgehauen …; … er hatte das Leben satt, solche Menschen gibt’s … Wenn alle Blätter von den Bäumen gefallen sind, finden sie ihn vielleicht.
In den letzten Monaten hatte er dreißig Kilo abgenommen. Er war nicht mehr er selbst: … Dabei war er so fröhlich, immer zum Feiern aufgelegt; … alle kannten ihn; … er hat es gemacht wie Clemente; … nein. Das ist was anderes, Clemente ist die Frau weggelaufenen, und er hat angefangen zu trinken, fuhr besoffen mit dem Kleinbus … Doch Reden hat keinen Sinn, manchmal trifft das Gebirge einen ins Herz, träufelt böse Schatten in die Adern des Bergbewohners: bis alles in ihm widerhallt wie in einer Schlucht, in die nie ein Lichtstrahl, nie ein Kyrie eleison dringt, jeder Tag ist wie ein Mühlstein, den man mitschleifen muss, und der Tod ist ein gehörnter Uhu, der dich vom vertrockneten Ast der Kastanie fixiert.
Auch Berto hat nach ihm gesucht und dabei riskiert, zwischen Felsband und Abgrund abzustürzen. „Es ist, als suchte man eine Nadel im Heuhafen“, sagt er. Unter einer Kastanie sitzend, die dieses Jahr vor der Zeit die Blätter verliert, dengelt er die Sichel. Er hämmert auf ein Eisen, das in die Erde gerammt ist. Hammer und Sichel. Sein Vater war Kommunist. Jung nach Paris ausgewandert, hatte er gelernt, die „Humanité“ zu lesen, während er in seinem Taxi auf Kunschaft wartete. Berto liest nur die Sportzeitung. „Ich möchte ein Adler sein“, sagt er.
Ich bin gestern angekommen. Hier ist die Luft kühler, sie streicht flüsternd durch die Birkenblätter wie durch die Haare eines Mädchens in der Sommerfrische, und spielt mit der Sonne. Sie lässt Eros glitzern und scheint das Elend zu vertreiben. Doch von ferne hört man das Tosen des Flusses im Talgrund. Vielleicht besuchen die Wildtiere Ultimo in einer Schlucht. Er wird nicht gefunden. Drei Tage lang haben sie mit Hunden und Hubschrauber nach ihm gesucht, dann war Schluss. Auch in den Fernsehnachrichten haben sie es gebracht. Im Dorf wird geredet: … zu gutmütig; … in letzter Zeit nahm er Tabletten; … ein zwanghafter Arbeiter; … sie hätten ihn im Gebirge nicht allein lassen dürfen; … er hatte sich einen struppigen Bart wachsen lassen; … einmal hat er geprahlt, er habe zwei tote Esel in die Schlucht geworfen; … an dem Tag ist der Hund ihm bis zum Wildbach gefolgt … Ultimo ist allein gegangen, damit ihn niemand findet. Nicht einmal der Hund.
Jede Nacht, während die Wildschweine im Ackerland wühlen, kehrt er in den Gedanken von Frau und Töchtern wieder. In Kürze wird ihn dort oben zwischen steinernen Einhörnern der erste Schnee bedecken. Doch nicht der felsige Ort, wo das letzte Selbstgespräch des wilden Mannes stattgefunden hat, bewegt die Gemüter: es sind die Häuser, das, was es zu erben gibt. „Wenn er nicht gefunden wird, sparen sie das Geld für die Beerdigung …“, zischt eine Giftschlange unten im Dorf.
Nun kommt Graziano, im Mechanikeranzug. Er ist elf Jahre alt. Er trägt immer einen blauen Overall. Oder einen roten: wie die Mechaniker bei Ferrari. Er ist zwischen Spielzeugautos, Lastwagen und Traktoren aus Plastik groß geworden. Bei ihm ist die kleine Candida: ihr Vater ist mit der Friseuse eines Nachbardorfes durchgebrannt, heißt es. In ihrer Klasse, der ersten, ist dieses Jahr eine neue Schülerin dazugekommen. Eine von außerhalb, blond und blauäugig. In der Pause hat sie mit einer Klassenkameradin gestritten, die zu ihr gesagt hat:
„Du Mischlingsschwein!“
In der Bar, vor dem blau flimmernden Bildschirm des Fernsehers, der den ganzen Tag in einer Ecke läuft, sitzt ein übergewichtiger Mann auf dem Hocker am Tresen und trinkt seinen Graugrünen aus, Grappa und Pfefferminz. Die Kellnerin füllt sein Glas erneut. Es ist acht Uhr morgens.
Im Hauptort ist heute Markttag. Für die, die mit geschultertem Rucksack von den Almen herunterkommen, ist es ein Genuss, andere Menschen zu sehen: Dort oben sind mittlerweile viele der Hütten nur noch von Plastikresten und verlassenen Töpfen bewohnt. Der kurze Genuss, sich unter den anderen lebendig zu fühlen in der Samstagssonne, neben den Hühnern im Käfig, dem Käsestand, dem Verkäufer, der die Frauen seinen Schinken kosten lässt und seinen Balsamhonig anpreist. Das Wunder, sich noch als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.
Ich setzte mich zum Zeitunglesen vor das Senioren- und Invalidenheim im alten Kern des Ortes. Hier in dieser wegen Bauarbeiten für den Verkehr gesperrten Straße hat man seine Ruhe. Ein Mann mit einer Ökotüte in der Hand kommt und setzt sich neben mich. Es ist ein Mann ohne Stimme, er ähnelt Serge Reggiani. Ein émigré. Mit den Fingern malt er den Eiffelturm vor sich, um mir zu verstehen zu geben, dass er aus Paris kommt. Die von seinen Händen geschaffene Turmspitze ragt über die Berge hinaus in den Himmel, viel, viel höher, in das Reich der Einhörner und Raubvögel. Einen Moment lang fühlen Reggiani und ich uns als Brüder im Schweigen unter dem Eiffelturm.
Tersilla serviert mir die Bergbutter, die nach Kuh schmeckt, davor ekeln sich die Damen. Sie ekeln sich auch vor dem Siebenschläfer, der elegant zwischen der Esche und dem Haselnussstrauch tanzt. Tersilla hat einen breiten Verband am Bein: Beim Scheren hat das Lamm sie getreten. Daraufhin hat sie blutstillende Kräuter auf die Wunde gelegt. In der Nothilfe hat die Krankenschwester sie gefragt:
„Was hast du da draufgetan? Edelweiß?“
Leicht angeheitert tritt Berto herein und lacht wie ein Kind: Heute Abend treffen sich die von der Pro Loco am Lagerfeuer zum Hexentanz! Als er klein war, haben sie ihm einen Haufen Geschichten erzählt, um ihn davon abzuhalten, an den Bach unten in der Schlucht zu gehen: Dort war die Ziege mit vier Hörnern und ohne Haut! Er lacht, der Berto. Wenn die Kuh keine Milch gab, waren die sorcières schuld! Und auch, wenn die Butter nichts wurde. Heute Abend ist Berto redselig. Der Schnaps löst ihm die Zunge: Als aber die vom Dorf zu ihm kamen und fragten, ob sie das Theater auf seinem Grundstück veranstalten dürfen, hat er nein gesagt. Die sorcières, nein, wirklich nicht.
Der Siebenschläfer sitzt reglos unter dem alten Birnbaum, der die noch unreifen Früchte abwirft. Meine Tochter sagt: Er stellt sich tot, um sich vor den Feinden zu schützen. Er macht es wie der Junge auf dieser norwegischen Insel, der sich vor einem Monat totgestellt hat, um dem Gnadenschuss des Killers zu entgehen.
Nun versucht der Siebenschläfer mit dem grauen Fell, mit einem Satz auf den Holzstapel zu springen, schafft es aber nicht, fällt zurück auf die Wiese. Ich berühre ihn, und er zuckt zusammen. Die kleinen Augen starr auf die Birne gerichtet. Den aschgrauen Schwanz, der länger ist als der Körper, um sich gelegt wie zum Schutz. Er atmet mit Mühe.
Heute Morgen, gleich nach dem Aufstehen, gehe ich zu dem Holzstapel. Der Siebenschläfer ist nicht mehr da, und ich sehe das blasse Mädchen: Wer bist du denn?
2.
Ich bin die Tochter von Ultimo, von dem, den sie nicht mehr finden, du siehst mich wohl abends, wenn ich die Ziegen heimhole, Reden hat keinen Zweck, aber heute früh gehe ich ihn beim ersten Licht suchen, ich habe ihn im Traum gesehen, er hatte Flügel an den Füßen und flog mit seinem dunklen Bart über die Schluchten auf der Suche nach einer verirrten Ziege, mein Adler-Papa hat mir von oben zugewinkt, dann hat sich ein Flügel abgelöst, und er ist hinter einem großen Steinhaufen verschwunden, aber ich werde ihn finden, im Wasser des Wildbachs werde ich seine Stimme finden, die mir abends am Feuer bei den Hausaufgaben half, im Sommer verschwand er dann im Gebirge und wurde ein Bär: Reden hat keinen Sinn, ich weiß, doch wozu sind wir denn auf der Welt, wenn wir nichts sagen? Hast du schon das Bild des Heiligen mit der Wunde in der Kapelle gesehen? Der erzählt mir manchmal eine Geschichte, während ich mich um die Ziegen kümmere, ihr seht mich wohl abends am Straßenrand, die, die hinken, lade ich auf den Wagen, hier tun wir uns weh, wir gehen zugrunde, während ihr Städter mit eurem Deodorant euch die Nägel manikürt und Lockenwickler in die Haare dreht, „ihr Ärmsten“ sagt ihr zu uns, doch heute fliege ich frühmorgens mit dem Hubschrauber des Forstamts los, auch mein Papa hat diese leuchtenden Sonnenaufgänge gesehen, ich bin die Tochter des Bären und suche ihn auf den Gipfeln, wo er abgestürzt ist, es stimmt nicht, dass er tot ist, wer hat das behauptet? Er ist zum Pilzsuchen gegangen und hat sich im Wald verlaufen, findet seine Höhle nicht mehr, aber ich will, dass er nicht mehr als Bauer arbeitet, sondern in die Ebene runtergeht, Lastwagen fahren lernt und mir abends beim Heimkommen einen kleinen Lastwagen aus Plastik mitbringt und mir alles erzählt, dann fahren wir einmal durch ganz Italien und besichtigen die Städte, ich halte ihn an der Hand, ich bin ja seine Tochter, Ziegenhirtin nennen sie mich in der Schule, aber nicht mehr lange, morgen werden sie mich die Tochter des Lastwagenfahrers nennen, und so gebe ich meinem Papa die Flügel zurück, er lacht und kommt wieder nach Hause, er zeigt mir, wie man den Computer benutzt, denn ich will im Büro bei der Gemeindeverwaltung arbeiten und meiner Mama und dem Bären Papa Euro nach Hause bringen, dann brauchen wir keine Ziegen mehr, die man abends hereinholen muss, und manchmal verläuft sich eine, und wenn sie krank wird, erledigen und verscharren wir sie; oder aber ich gehe runter ins Dorf, setze mir ein weißes Häubchen auf und verkaufe Brot im Bäckerladen, vielleicht mache ich auch eine Pizzeria auf und nenne sie Edelweiß, ein schönes Schild mit der weißen Blume vor dem blauen Himmel, wo niemand stirbt, denn dort lebt man für alle Zeit ohne sich wehzutun, und niemand kann dich herumkommandieren und in den Abgrund stürzen lassen, in der Bläue erhebt sich ein starker Wind, der uns mit dem Weihwasser und den gerösteten Kastanien fortweht, und hoch oben das Edelweiß, die Gämse, die er aus dem Erlenholz geschnitzt hat, mit Flügeln an den Füßen fliegen die Steine und lachen über den Hund von San Rocco und die Traubenmadonna, sie fliegen über die sorcières, über die aus Aosta, die Tierärzte, die kontrollieren kommen und dir das Blut aussaugen, und mein Papa ist ein freier Mann und fliegt über den Ginster bis ans Ende der Welt mit seinen Kühen, die den Kuhkampf gewonnen haben und die Königinnen sind.