Ottava edizione 2015 • vincitore sezione editi

Kontinente

Tanja Raich

Tanja Raich

1986 in Meran/Südtirol geboren, lebt und arbeitet seit 2005 in Wien. Studium der Germanistik und Geschichte in Wien. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (Kolik, Die Rampe, DUM, u.a.) und Anthologien (Edition Exil, Poetenladen, u.a.). Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Roman. 2015: Finalistin beim MDR­Literaturwettbewerb, Rom­Stipendium des Bundeskanzleramtes Österreich. 2014: Exil­Literaturpreis, Aufenthaltsstipendium Casa Litterarum Paliano. 2012: 3. Platz beim Literarischen Wettbewerb der Stiftung Südtiroler Sparkasse. Teilnahme an der Leondinger Akademie für Literatur 2014/2015 unter der Leitung von Gustav Ernst und Karin Fleischanderl.

BegrÜndung der Jury

Zärtlichkeit und Brutalität, eine Einsamkeit zu zweit, das Auslaufmodell von Glück. Keine Heuchelei, sondern nüchterne Tatbeschreibung in wunderbar stimmiger Sprache. Gleichzeitig Weltsituation und Ehekrieg, kühl bis bewegend.

IL RACCONTO

Du sagst nichts, als ich zur Tür hereinkomme. Wir sehen uns in die Augen und zwischen uns sind die Wörter gestrickt, aber unausgesprochen. Ich bewege mich durch den Raum, vorsichtig, als wäre ich ein Gast. Ich sage, wie geht es dir, als ich die Einkäufe im Kühlschrank einräume. Und du sagst, gut, und nimmst mir die Getränke aus der Hand, räumst sie dort ein, wo sie schon seit Jahren hingehören. Ich öffne die Spülmaschine und trockne das Geschirr. Du nimmst das Besteck und räumst es zurück in die Schublade. Wir stehen uns im Weg, aber bewegen uns ohne Berührung aneinander vorbei.
Ich suche nach einem Satz, während du den Kühlschrank wieder öffnest, eine Zwiebel herausnimmst und anfängst zu schneiden, aber mir fällt keiner ein. Ich stehe neben dir, etwas unbeholfen, und suche weiter nach einem Satz, den ich dir sagen könnte, aber da steigt mir der Geruch der Zwiebeln in die Nase, und ich gehe, und komme erst dann wieder, als du uns zwei Teller auf den Tisch stellst.
Du nimmst die Gabel und das Messer in die Hand und schneidest das Fleisch in kleine Stücke, legst das Messer wieder weg und nimmst immer ein Stück Fleisch und eine Kartoffelscheibe auf deine Gabel. Ich beobachte dich von der Seite, aber du siehst mich nicht an. Ich frage, wie war dein Tag. Und du sagst, dass du heute die Steuererklärung gemacht hast. Ich sage, schön, endlich hast du es hinter dir, während ich mit der Gabel im Essen stochere. Du schaust in meinen Teller, aber du fragst nicht, ob mir das Essen nicht schmeckt. Ich sehe dir dabei zu, wie du eine Gabel nach der anderen zu deinem Mund führst und einen Punkt im Raum fixierst. Ich frage dich, ob du deinen Bankberater angerufen hast und kaue lange an einem Stück Fleisch, denke mir, dass du es wieder einmal zu lange gebraten hast. Und du sagst, nein, während du noch immer den Mund voll hast, das mache ich morgen, und weiterkaust.
Ich nehme unsere Teller und leere den Rest meines Essens wieder zurück in die Pfanne, obwohl ich weiß, dass du das nicht magst. Du stellst die Gläser in die Spülmaschine und siehst mir dabei zu. Und während ich unsere Teller einräume, denke ich mir, dass ich gerne die Keramikteller, die wir in Griechenland gekauft haben, behalten würde. Dass es gut ist, dass wir immer noch viele Dinge doppelt haben. Zwei Schneidebretter, zwei Handmixer, zwei Knoblauchpressen, zwei Backformen, zwei Fonduesets.

Die Spuren der Flugzeuge verblassen zwischen den Wolken. Ich höre meinen Atem und mein Herz schlägt laut in der Brust. Ich stelle mir vor, wie du neben mir liegst, wie du mir sagst, was du siehst in den Wolken. Deine Bilder habe ich nie gesehen, vielleicht habe ich sie nicht verstanden, vielleicht war ich zu langsam dafür oder ich habe keine Fantasie. Du sagst mir oft, dass ich keinen Weitblick habe, dass ich nur dorthin schaue, wo mein Fuß den Boden berührt.
Ich versuche die Wolken nicht aus meinen Augen zu verlieren und untersuche ihre Formen. Aber ich sehe keine Tiere. Keine Länder oder Kontinente. Ich sehe keine Gegenstände. Ich sehe nur Wolken, die vorbeiziehen, ihre Form verändern und auseinanderfallen. Du sagst manchmal, dass ich keine Träume habe, dass ich doch Träume haben muss. Dass jeder Mensch Träume hat und dass du ganz viele hast, obwohl ich von den meisten nichts weiß. Ich stelle mir vor, wie du deinen Kopf auf meine Brust legst und wie ich dir durch die Haare streiche. Ich versuche mich zu erinnern, wie das war mit uns vor Jahren. Ich lege meine Hand auf die Brust und spüre mein Herz durch die Finger schlagen. Ich frage mich, wohin dieses Flugzeug, dessen Spuren verschwunden sind, geflogen ist.

Ich komme nach Hause und lasse die Tür zu laut in das Schloss fallen, aber es ist gut, weil dann kannst du mich hören. Doch du kommst nicht zu mir, du sagst nicht, hallo. Du bist irgendwo zwischen den Gängen und Ecken unserer Wohnung. Ich rufe nach dir, aber du antwortest mir nicht. Ich bewege mich leise, höre die Wohnung entlang, aber ich höre dich nirgends und weiß nicht, wo du bist. Ich setze mich an den Schreibtisch, auf die vorderen Kanten meines Sessels, und zucke jedes Mal, wenn draußen im Treppenhaus eine Tür ins Schloss fällt, zusammen. Es ist leise in unserer Wohnung und dunkel. Ich suche dich nicht. Nur das Licht meines Bildschirms beleuchtet den Raum. Ich höre das Klicken meiner Maus und das Gurren der Tauben, die vor meinem Fenster sitzen und sich abwechselnd in den Innenhof fallen lassen. Ich klicke mich durch die Nachrichten, lese von einem abgestürzten Flugzeug in der Ukraine, von einem baldigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas, von einem BBC Korrespondenten, der für Angela Merkel ein Geburtstagslied gesungen hat. Kein einziger Schritt, der durch unsere Wohnung geht.
Ich lese von einem Unternehmen in Chicago, das den Toilettenaufenthalt seiner Mitarbeiter auf sechs Minuten beschränken will. Dass der israelische Ministerpräsident doch mit einer Bodenoffensive im Gazastreifen beginnen will. Von einer japanischen Künstlerin, die verhaftet wurde, weil sie einen Kajak in Form einer Vagina anfertigen ließ. Ich lese, dass Angela Merkel fotogen ist und Johnny Winter gestorben ist.
Ich stelle mich vor den Spiegel und putze meine Zähne. Ich kämme meine Haare und lege meine Kontaktlinsen in den Behälter. Ich gehe in unser Schlafzimmer, ziehe mich aus und lege mich nackt in das Bett, aber dort bist du auch nicht.

Du schreist mich an und ich schreie zurück. Du sagst, dass ich eine behinderte Sau bin. Und dass ich verschwinden soll. Ich sage, dass du ein beschissenes Arschloch bist. Dass ich dich nicht mehr sehen kann. Dass ich deinen Anblick nicht mehr ertrage. Dass du dich ficken sollst, schreie ich laut und dabei überschlägt sich meine Stimme. Und du schreist. Ich höre nicht mehr, was du schreist. Dein Gesicht ist rot angelaufen und auf deiner Stirn pocht eine Ader. Und ich schreie, und weiß auch nicht mehr, was ich schreie, ob es an dich oder an mich gerichtet ist, aber du hörst mir nicht zu und wir schreien gleichzeitig. Und ich schubse dich, damit du aufhörst zu schreien und ich alleine schreien kann, aber du schubst mich zurück. Ich schreie, lauter, und ich schlage mit meiner Faust auf deinen Rücken, bis ich dir weh tue, du deine Hand ausholst und ich aus dem Zimmer laufe. Mein Herz klopft laut und unkontrolliert, und meine Hände zittern vor Wut. Ich schlage die Tür hinter mir zu und sie fällt in das Schloss, aber nicht laut genug. Und ich öffne sie wieder und schlage sie noch einmal zu und noch einmal und wieder und wieder, bis du zu mir läufst, während ich die Türklinke in der Hand halte und plötzlich schockiert über mich selbst bin. Ich gehe. Und ich höre dich schreien und fluchen, wahrscheinlich beschimpfst du mich.

Du liegst neben mich und ich streiche dir durch dein Haar. Wir spielen uns Erinnerungen zu, reden von Tagen, die schon lange hinter uns liegen und seltsam verklärt sind, als wäre früher alles besser gewesen. Du erzählst mir wieder einmal, wie das war, als du mich zum ersten Mal gesehen hast, und ich weiß schon nicht mehr, ob das wirklich so war, wie du behauptest oder ob du dir nicht schon längst eine eigene Version der Vergangenheit zurecht gelegt hast. Du sagst mir, wie sehr du mich liebst. Ich sage, dass ich dich mehr liebe und du, dass du mich noch mehr liebst. Wir lachen, obwohl wir beide wissen, dass es keine Steigerungsform gibt von Lieben und dass es nur ein Lieben oder Nicht-Lieben gibt. Du saugst an meinen Brustwarzen und ich frage dich, ob du die Waschmaschine ausgeräumt hast. Du wanderst zwischen meine Beine, während Oasis Take me to the place where you go singen. Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich dieses Lied zum ersten Mal gehört habe. Es war ein Abend im Sommer. Die Musik war laut. Eine Discokugel drehte die Sterne im Kreis. Jemand zog mich auf die Tanzfläche und küsste mich.

Ich sage dir, dass du nur in deinen Träumen lebst und jeglichen Bezug zur Realität verloren hast. Du sagst, dass ich mich aufgegeben und keine Perspektiven habe. Du sagst, dass ich nichts geleistet habe in meinem Leben bisher, dass ich mich für nichts interessiere, dass ich stehengeblieben bin und du mich nicht wiedererkennst. Ich sage, dass du nur behauptest, Träume zu haben, dass du schon seit Jahren jeden Tag den gleichen Scheiß machst und genauso stehengeblieben bist. Du sagst, dass du etwas erreicht hast, dass du so viel erreicht hast, dass du alles erreicht hast und sogar noch mehr erreichen wirst. Ich sage, dass du genauso viel oder wenig erreicht hast wie ich, nur, dass du Geld dafür bekommst und ich nicht und du meinen Erfolg immer am Geld misst. Dass du dich überhaupt nicht für mich interessierst, dass du gar nicht weißt, was ich mache, geschweige denn, was ich erreicht habe. Du sagst, dass ich mich genauso wenig für dich interessiere, dich ignoriere und distanziert bin. Dass ich überhaupt nicht mehr lache, nicht mehr mit dir und sonst auch nicht. Du sagst, dass ich nicht mehr die bin, die ich war. Dass du meine Anwesenheit nicht mehr erträgst. Dass du nicht weißt, wie das weitergehen soll mit uns. Ich sage, dass ich das schon längst nicht mehr weiß.

Ich stehe in der Küche und schneide Tomaten in Scheiben. Im Radio höre ich die Nachrichten. Sie sagen, dass in der Ukraine nach den Toten gesucht wird und Tausende Palästinenser auf der Flucht sind. Du kommst in die Küche, ich drehe mich nicht zu dir um. Du stellst dich hinter mich und hältst mich mit beiden Armen fest. Ich spüre deinen warmen Atem auf meinem Hals und dein Herz an meinen Rücken klopfen. Es ist gut, deine Wärme zu spüren. Ich lege das Messer auf die Arbeitsplatte und eine Träne tropft auf meine Hand. Du sagst nichts und ich lege meine Hände um deinen Kopf. Wir stehen in der Küche wie zwei, die sich zum ersten Mal umarmen, und hören die Nachrichtenstimme, die über das Wetter von morgen spricht.

Die Möwen gleiten an der Wasserdecke der Donau entlang. Ich liege am Wasser und elektronische Musik dringt von einem Strandlokal zu mir. Jemand bleibt über mir stehen und fragt, warum ich sowas lese, Arbeit und Struktur, an einem Sonntag? Er lacht und ich sehe, dass ihm ein Zahn fehlt. Er fragt, ob das Buch spannend sei, ob ich viel lese. Er sagt, dass er nicht so viel lese, dass er lieber Musik höre. Er fragt mich, woher ich komme, womit ich mein Geld verdiene, und er wandert mit seinen Blicken meinen Körper entlang, aber ich kann nichts dagegen tun. Er sagt, dass er Reiseleiter sei, obwohl ich ihn nicht danach gefragt habe. Er setzt sich neben mich, obwohl ich ihm keinen Platz angeboten habe. Er zündet sich eine Zigarette an, obwohl er mich nicht gefragt hat, ob es mich stört. Er fragt mich, ob ich oft hierher komme. Er sagt, dass ich schön bin. Mein Gesicht, meine Haare, meine Augen. Er sagt, dass er noch nie so grüne Augen gesehen hat und berührt meinen Arm. Er erzählt mir Dinge, die ich nicht wissen will, und fragt mir Löcher in den Bauch und ich bin mit jeder einzelnen Frage absolut überfordert und weiß nichts zu sagen als: vielleicht und: kann sein.

Ich stehe vor dem Spiegel und versuche herauszufinden, was an meinen Augen so besonders ist. Ich suche in meinem Gesicht nach der Schönheit, die er scheinbar darin gefunden hat, aber ich kann sie nicht finden. Die Lippen vielleicht, aber auch da sehe ich schon die kleinen Falten und auf meiner Stirn eine tiefe zwischen den Augen. Ich frage mich, was du eigentlich schön in meinem Gesicht gefunden hast, an meinem Körper. Wahrscheinlich hast auch du die grünen Augen betont. Vielleicht meine Beine, meine Ohren, meinen Geruch. Du hast vielleicht einmal gesagt, dass du alles schön findest an mir. Aber ich kann mich an nichts erinnern, du könntest alles und nichts gesagt haben, es ist schon so lange her.

Du sagst, dass du nachgedacht hast. Dass es so nicht mehr weitergehen kann. Du sagst, dass sich etwas ändern muss. Ich sage nichts. Du sagst, dass wir doch nicht so weitermachen können. Du sagst, dass du jeden Tag überlegst, ob du gleich nach Hause gehen oder doch lieber noch warten sollst, bis ich schlafe. Dass du nicht mehr weißt, ob du mich berühren darfst, ob du mich küssen sollst, ob du mich umarmen darfst, ob wir normal sein können miteinander. Du sagst, dass du wie in einem luftleeren Raum bist und die Tage dich erdrücken und dass du manchmal das Gefühl hast, nicht genug Luft zu bekommen. Du sagst, dass du es nicht mehr länger aushältst. Dass du nicht mehr weißt, wo du hingehörst. Ich sage nichts. Du redest von früher. Du redest von der Zukunft. Du redest und redest, ich höre dich nicht mehr zu.

Du schläfst, als ich mich zu dir ins Bett lege. Du bist wach, das weiß ich, aber du tust, als ob du schlafen würdest, damit du nicht mit mir reden musst. Zwischen uns ist viel Platz und deine Wärme spüre ich nicht. Ich lege mich nicht an deinen Rücken, lege auch meinen Arm nicht um dich. Ich liege starr, als wäre ein wildes Tier neben mir und atme leise. Ich weine und unterdrücke das Schluchzen, damit du mich nicht hörst, schließe meine Augen und wünsche mir, dass da jemand ist, der mich in seine Arme nimmt, in dessen Bauch ich meinen Kopf legen kann und der mir meinen Nacken krault. Ich sehe dich an. Von draußen dringt das Mondlicht in unser Schlafzimmer und hinterlässt einen Lichtfilm auf deinem Gesicht. Deine Augen sind geschlossen. Du bist es nicht.

Es riecht nach Kaffee, als ich aufstehe. Du stehst in der Küche und machst uns Frühstück, während die Nachrichtenstimme von 672 toten Palästinensern spricht. Ich setze mich an den Tisch, der voll ist mit Dingen, die ich mag. Du sagst, guten Morgen, und küsst meine Stirn. Du sagst, dass ich mich setzen soll, aber du siehst mir nicht in die Augen, sondern richtest deinen Blick irgendwo in den Raum. Du sagst, dass du das, was du gesagt hast, nicht so gemeint hast. Dass du zu sehr mit dir selbst beschäftigt bist. Der Geruch des Kaffees steigt mir in die Nase und ich betrachte die frischen Brombeeren vor mir, die im Licht des Morgens leuchten. Du sagst, dass du mich liebst, aber noch immer siehst du mir nicht in die Augen. Ich will etwas sagen, doch die Wörter stecken fest und ich sehe, dass der Käse schon zu schwitzen beginnt. Du fragst mich, ob ich dich immer noch liebe und ich versuche zu sagen, dass es so ist und schaue dich so lange an, bis du den Raum beiseite lässt. Ich sage, dass ich schwanger bin und überwache jeden einzelnen deiner Gesichtszüge. Du siehst mich erschrocken an, aber dann sehe ich kleine Falten, die sich um deine Mundwinkel bilden, und du nimmst mich in deine Arme. Und dann küsst du meinen Bauch, als hätten wir das nicht schon zu oft im Fernsehen gesehen. Ich halte deinen Kopf und ich schaue aus dem Fenster hinüber in die Wohnung unseres Nachbars. Er tanzt in der Küche, während James Brown aus unserem Radio singt.