Ottava edizione 2015 • secondo classificato sezione inediti

Kleine Abschiede

Minu Ghedina

Minu Ghedina

1959-in Klagenfurt geboren, aufgewachsen in Innsbruck
1977-Matura, Studium der Germanistik und Geschichte, Schauspielstudium
1981-1. Preis des Dramatikerwettbewerbs Tirol
1982-Bühnenreifeprüfung, Beginn der Arbeit als Schauspielerin
1985-Übersiedlung nach Berlin
1986-Uraufführung meines Theaterstücken „Mondsüchtig“ in Berlin
1990-1995 Übersiedlung nach Wien, Studium der Bildhauerei an der Hochschule für angewandte Kunst bei Alfred Hrdlicka
1993-Berlinförderung und Uraufführung des Theaterstückes „Essiggurken“
1997-Geburt der Tochter Lea, Arbeit als freischaffende Künstlerin
1999-Übersiedlung nach Nordrhein-Westfalen
2008- Übersiedlung nach Innsbruck, Arbeit als freischaffende Künstlerin

-mehrere Veröffentlichungen in der österr. Literaturzeitschrift „STERZ“,
-szenische Lesungen

BegrÜndung der Jury

Die Geschichte spielt in einer Winternacht. Wie in einer Choreographie nähern und entfernen und nähern sich die beiden Liebenden, um am Ende doch auseinander zu gehen. Ein filmisch - dramatischer Pas de deux mit elegischem, fast versöhnlichem Ausgang. Es könnte die Geschichte einer großen Befreiung sein.

IL RACCONTO

Dabei war das Pendeln durch die Straßen an diesem frühen Abend des 5. Januar unbedeutend. Ich hatte Termine erledigt und strich an den Häuserfassaden meine Blicke ab, hinterließ nichts, außer stummen Gesten. Registrierte Fensterauslagen halbherzig.
Es war schon dunkel und kalt. Die stillschweigende Vereinbarung der Gegebenheiten hatte mich dann jungfräulich in ein Menschengetümmel geworfen. Ich wollte nicht dabei sein, aber irgendjemand zerrte mich mitten hinein und da stand ich nun, leicht abwesend, und sah mich um. In den Sektgläsern spiegelte sich das sanfte Kerzenlicht und in diesem schwachen Licht ging jeder leicht vorgebeugt, um Gesichter zu erkennen. Nur die, die ihren Gedanken nachgingen, blieb aufrecht. Alle waren feierlich. Die Gratulationen schwangen durch den Raum, Blumenvasen füllten sich, es wurde gelacht und getrunken.
Ich zwängte mich durch die Menschen hindurch, weil die Luft knapp wurde. Ich taumelte leicht, schob, drängte und suchte den Blick nach vorne, dem Ausgang zu, als mich sein Blick traf. So unverhofft, dass ich kurz die Augen schließen musste, um Atem zu holen und mich zu orientieren. Tastend suchte ich meine Umgebung ab und bekam einen Tisch zu fassen, an dem ich mich schwankend festhielt. Als ich die Augen wieder öffnete, stand er da immer noch und sah mich an. Genauso verwirrt wie ich. Ich boxte und schlug um mich wie ein Krieger. Ich musste voran, musste zu ihm. Stand dann da, die Hände weit von mir gestreckt, um nicht zuzupacken, um nicht durch Winterjacke und Pullover und Hemd und durch all das Menschengewirr hindurch seinen Körper spüren zu können. Atemlos kam ich an und würgte ein Hallo heraus. Hinein in sein Lächeln, das mit schmerzhaften Widerhaken seit Wochen in mir verankert lauerte, das mich jetzt durchdrang und mich zum Taumeln brachte, leicht und nur für ihn sichtbar. Wir sahen uns an und wussten im selben Moment, dass die Monate des Verzichts umsonst gewesen waren. Sie hatten keine Erlösung gebracht. Keine Heilung. Die Liebe brannte immer noch. Verbrannte uns zusehends. Man wird mürbe.
Jemand stieß mich von hinten an, ich fiel leicht nach vorne und er fing mich auf  und in dem Bruchteil dieser Sekunde kam alles wieder, alle Worte, alle Berührungen unserer Liebe. Ich starrte ihn an wie ein Partisan, der verzweifelt ums Überleben kämpft. Nichts war voran gegangen. Sosehr wir uns gequält hatten, wir hatten stagniert.
Ich frage dich, haben wir versagt?
Er sah mich an und in seinem Blick wiederholte sich alles noch einmal. Mehr war nicht möglich. Wir versanken in unserer Stummheit. Warfen gestenlose Blicke, bis sich jemand an ihn heran schob und ihm ein Glas Sekt in die Hand drückte. Leicht abwesend und vielleicht nur für mich bemerkbar, nahm er es an und wechselte ein paar Worte mit seinem Gegenüber. Seine Stimme war dann nicht mehr zu ertragen. Ich wandte mich ab. Die Ratlosigkeit drückte sich auf meinen Brustkorb. So weit war ich schon einmal. Ich begann zum zweiten Mal an diesem Abend die Menschen von mir zu schieben und drängte dem Ausgang zu. Ich hätte mir am liebsten die Kleider vom Leib gerissen, um atmen zu können, fast röchelte ich, aber es war ja Winter und als ich das Tor zur Straße öffnete, stach mir beißende Kälte entgegen. Aber sie tat gut, weil sie dem Schmerz etwas entgegensetzte. Sie trotzte ihm. Noch immer zogen Menschen mit Blumen oder Geschenken an mir vorbei in das Haus. Zum Glück kannte ich niemanden und konnte mit geöffnetem Mantel und geschlossenen Augen Momente lang die Kälte genießen wie ein Sonnenbad. Was tun wir uns an, wenn wir lieben.

Die Kälte war beißend. Das Winterbad brannte sich in meine Wangen. Jemand hatte in einem großen Kessel vor dem Tor ein Begrüßungsfeuer gemacht wie ein Wegweiser für die Suchenden. Ich trat einige Schritte näher und starrte in die Wärme. Wie unmittelbar sie war und die Kälte sofort verdrängte. Noch einen Schritt näher und schon hätte sie mich verbrannt.
Irgendwann stand er in meiner Nähe. Ich spürte es sofort. Mein Herz klopfte und ich hätte alles dafür gegeben, mich jetzt einfach an ihn lehnen zu können, um seinen Atem zu spüren. Aber das Nichtdürfen hatte sich in mich eingefressen und ließ Gesten schon in ihrem Ansatz erstarren. Manchmal starben sie schon in den Gedanken. Wie eingeschränkt man so wird und wie lautlos.
Das Feuer riss immer wieder Bilder auf. Häuserfassaden brachen hervor und erloschen wieder. Wie in einem Zaubergarten rückte die Welt näher und zog sich wieder zurück. Jetzt, in diesem Moment, wusste ich genau, wie sich seine Haut anfühlt, wie sie riecht, wie sie schmeckt. Mit geschlossenen Augen erinnerte ich mich.
Schön das Feuer, sagte eine Frau, die an meine Seite gerückt war. Ich nicke blicklos. Ja, tut gut.
Schon das Buffet probiert?
Ich lachte. Eigentlich nicht.
Lohnt sich. 
Im Augenwinkel sah ich, wie er den Weg in die schmale Gasse einschlug und kurz darauf aus meinem Blickfeld verschwand. Ich zählte stumm vor mich hin. Bei 200 nickte ich der Frau zu: Ich gehe jetzt probieren,  und schlug denselben Weg ein wie er, erschrak, als er mich nach einigen Schritten an sich zog. Heftig und fest.
Die unerträglichsten Wochen meines Lebens, murmelte er und drückte mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. Ich drückte noch fester.
Wir küssten uns. Ich spürte, wie mein Körper den Absterbungsprozess stoppte und die Haut wieder zu prickeln begann. Sie taute auf. Es war fast nicht zu ertragen. Es tat weh.
Ich saugte ihn in mir auf. In den letzten Wochen war ich erstickt, verhungert, verdurstet. Ich hatte nur so getan, als ob ich lebe.
Jetzt griff ich unter seinen Pullover, um seine Wärme spüren zu können. Im Verborgenen kam der Mut wieder.
Aber jede Berührung riss neue Brandwunden in uns. Was tun wir uns an, wenn wir lieben.
Dann standen wir still, lehnten uns aneinander, rochen unsere Haut und taten so, als ob alles gut wäre.
Was sollen wir tun.
Sag du es mir.
Die Dunkelheit umschloss uns. Es begann leicht zu schneien und machte die Welt still. Die Schneeflocken umgarnten uns so leicht und zärtlich, als ob die Welt ganz uns gehörte und alles einfach wäre. Ich drückte seinen Kopf an mich. Mehr nicht. Das reichte für das Glück. Der Schnee verdichtet unser Wirrsein. Die Zärtlichkeit dieses Momentes schuf Gedankenbrüche. Malte ein Wiegenlied. Als wir leise Schneeschritte hörten, erschraken wir kurz. Aber es war lächerlich. Nicht jeder war ein Feind.
Wie sehr ich ihn liebte.
Was tun wir uns an, murmelt er und legt seine warme Hand auf mein Gesicht. Werde ich blind. Bin nur noch Riechen. Seine Hand wurde zur Heimat. Jeder Partikel seiner Haut mein Vertrauter. Es roch nach Erinnerung.
Ich weiß nicht, wie lange wir hier so standen. Die Welt um uns herum war ganz still geworden. Vielleicht gab es nur noch uns. Es atmete sich wieder etwas leichter. Wir Schneekinder.
Ich spürte sein Herz an meiner Wange.
Ich hörte dem Herzen Minuten lang zu. Regungslos. Irgendwann spürte ich auch mein Herz, leicht verzögert im Rhythmus, aber genauso intensiv. Sein Klang breitete sich in mir aus, bis hinein in meine Brandwunden. Ich schloss die Augen. Das schlug jetzt überall und übertönte seines.
Verwirrt öffnete ich die Augen.
Ich blickte in das dunkle Rippenmuster seines Pullovers, es verdeckte nur das Bild seiner Haut aber nicht den Geruch. Ich schwankte leicht, wollte schon mit der Hand unter seinen Pullover greifen, hob an, fummelte am Rot der Wolle, ungeduldig, weil es irgendwo hakte, schob die Hand noch ein Stück weiter vor, bis die Geste letztendlich erstarrte. Irritiert wollte ich schnell mein Gesicht wieder an ihn lehnen, zögerte aber wieder, hielt an und begann mich dann vorsichtig, so vorsichtig wie ich noch nie in meinem Leben etwas getan habe, von ihm zu lösen. Ich sah das rote Rippenmuster sich von mir entfernen, es verlor seine Schärfe, ich verlor den Geruch seiner Haut, hörte irgendwann sein Herz nicht mehr, die Wärme erlosch rasch. Erlosch rasch. Ich spürte wieder die Kälte, zögerte noch einmal, löste mich aber dann doch von den Armen, den Händen, Millimeter für Millimeter, bis nur noch der Blick an ihm hängen blieb. Ich hatte das Gefühl, Stunden dafür zu brauchen. Wie in Zeitlupe hob ich meine Arme für eine letzte Geste, aber sie verklang im Schneegestöber. Die zarten Flocken umgarnten mich, sie flüsterten ganz leise Winterworte, ich musste kurz lauschen, weil sie schön klangen, vielleicht sangen sie auch. Ich übersah seinen Blick.

Ganz langsam und vorsichtig, als ob ich erst wieder lernen musste,  mich zu bewegen, drehte ich mich um, blickte die Straße entlang, um mich zu vergewissern, dass dort ein Weg war, hob den rechten Fuß und begann Schneespuren zu setzen, ganz neu und unverbraucht. Wie der erste Mensch.