9. PREIS • 2017 • secondo classifica sezione inediti

Der Würfel

Davide Coltri • Übersetzungen von Juliana De Angelis

Davide Coltri

Ich bin 1981 in Negrar (Verona) geboren und in einem kleinen Ort der Provinz Verona aufgewachsen.
Nach den Universitätsabschlüssen in Philosophie und Kontrabass habe ich jahrelang als Musiker, Kellermeister, Sonderpädagoge und Pizzabäcker gearbeitet.
Im Jahr 2012 habe ich einen Master in Education and International Development beim UCL Institute of Education in London abgeschlossen und beschäftige mich seitdem mit Bildungsprojekten in humanitären Notlagen. In den letzten Jahren habe ich in Irak, Sierra Leone, Sudan, Nepal, Tansania, Türkei und Syrien gearbeitet.
Meine Erzählungen wurden in den Zeitschriften Effe – rivista di altre narratività, L’Inquieto und Pastrengo veröffentlicht.

Meine Erzählung L’ultimo arrivato hat es in die Endrunde der 2017-Ausgabe von „8x8 – un concorso letterario dove si sente la voce” geschafft – einem Literaturwettbewerb, der im Rahmen der Turiner Buchmesse stattfindet und bei dem jeder Autor seine Erzählung vorliest.

BegrÜndung der Jury

Es geht hier um die Geschichte einer zur Gymnasialzeit entstandenen und zu früh unterbrochenen Freundschaft. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein unauffälliger Junge, ein „Loser“, wie er sich selbst beschreibt, aber das hindert ihn nicht daran, von Paolo, einem der Gutaussehenden der Klasse, als Verbündeter ausgewählt zu werden, um von der Literatur-Lehrerin nicht drangenommen zu werden (hier kommt auch der Würfel aus dem Titel der Erzählung ins Spiel). Die zwei werden auch außerhalb des Unterrichts unzertrennlich, und Paolo beginnt, ein großes Zeichentalent an den Tag zu legen. Während der Rekonvaleszenz nach einem Unfall verschließt sich Paolo jedoch immer mehr und gerät an Alkohol und Drogen. Ein geschmackloser Scherz unterbricht ihre Freundschaft und, als der Erzähler zehn Jahre später versucht, den Kontakt wiederaufzunehmen, entdeckt er, dass sein Freund wie viele andere geniale und ausschweifende Künstler geendet ist. Das einzige, was ihm als Andenken an den Freund bleibt, ist ein Würfel, so gefeilt, dass die Zahlen, die im alphabetisch geordneten Klassenbuch ihren Namen entsprachen, nie rauskommen konnten. Die Erzählung zeichnet sich durch die Sachlichkeit und den natürlichen Stil aus, mit dem eine Jugendfreundschaft rekonstruiert wird, sowohl in den erzählerischen Teilen als auch in den nüchternen, einwandfreien Dialogen. 

ErzÄhlung

Für C.S.

 

„Sechzehn.“
„Würfel nochmal.“
„Achtzehn.“
„Nein, so geht das nicht. Lass mich an dieser Seite noch etwas schleifen.“
So ging es schon seit fast zwei Stunden. Lateinübersetzung, adieu. Die Gleichungen konnten wir ohnehin. Sollte jedoch unser Trick funktionieren, so würden wir eine ganze Zeit lang nicht mehr drangenommen werden.
„Ich bin die Vorwürfe von Bevorzugung in dieser Klasse leid: Ab jetzt werde ich einen Würfel benutzen, um die Reihenfolge der mündlichen Tests festzulegen. Mein Neffe sagt, dass es welche mit dreißig Seiten gibt. Könnte jemand heute oder morgen gehen und mir einen kaufen?“
Die erhobene Hand von Paolo, die in Windeseile zusammengekratzten zwölftausend Lire, ohne dass mir der Grund dieser großen Bereitschaft klar gewesen wäre.
„Lass uns die Seiten gegenüber der Elf und der Achtzehn schleifen und werfen, bis wir sicher sind, dass unsere Zahlen nie rauskommen.“
Wir verwendeten den durchsichtigen Nagellack seiner Mutter, um die durch die Feile verursachten Kratzer zu verbergen.
Zwei Monate Ruhe.
Paolo war ein Genie.

Dass er ausgerechnet mich als Verbündeten gewählt hatte, erschien mir ein wunderbares Missverständnis.
Ich war unbeholfen, unsicher, schlecht gekleidet, Opfer einer hartnäckigen Akne und mit derart dürftigem Barthaar versehen, dass mir beim Blick in den Spiegel zum Heulen zumute war. Paolo selbst gehörte zur Gruppe – rund ein halbes Dutzend in der gesamten Klasse – der Gutaussehenden, derjenigen, die eine Aura von Sicherheit umgab und die Eleganz einer Person ausströmten, die weiß, wohin sie geht.
Er hatte sich mir Anfang Dezember während der Schulpause genähert. Wie immer saß ich halb versteckt in einer Ecke des Schulhofs, fröstelnd, las in einem alten Comicheft und flehte heimlich irgendeinen Gott an, dass er meiner Verdammung zum Loser ein Ende setze.
„Schöne Geschichte?“, hatte er gefragt, während er mir das Comicheft aus der Hand nahm.
Ich war schon dabei, mich hinter einem „Na ja“ zu verschanzen, da diese Ausgabe, die Vierundsiebzig, mein Lieblingsheft war, schämte mich aber, es zuzugeben, denn diese Geschichte war anders als die anderen. Kein Blut. Poesie.
„Ich mag das“, hatte ich in entschuldigendem Ton gesagt.
„Leihst du es mir aus? Ich gebe es dir morgen zurück.“
„Ok“, hatte ich gesagt, überrascht.
„Nächste Woche tauschen wir in der Klasse die Sitzordnung.“
„Ich weiß.“
„Setzen wir uns nebeneinander?“

An unserem ersten Tag als Banknachbarn las uns die Literatur-Lehrerin ausgiebig die Leviten. Ich folgte aufmerksam, Paolo zeichnete dichte Muster auf die letzte Seite des Geschichtsbuchs.
„Heute lautet die Botschaft, dass manche Erfahrungen, ich meine sexuelle, so früh wie möglich gemacht werden sollten, sobald sich die Chance ergibt.“
Gemurmel im Klassenraum.
„Da gibt es nichts zu lachen! Hört gut zu: Es handelt sich um einen wichtigen Schritt, der nicht leichtsinnig angegangen werde sollte. Ich sage es vor allem den Mädchen: Macht eurem Freund klar, dass, wenn ihr etwas mehr Zeit wollt, das nicht bedeutet, dass er euch nicht gefällt.“
Sie hat einige Sekunden lang geschwiegen, überlegend.
„Auch ich habe zu meiner Zeit warten wollen, und nicht, weil mein Freund mir nicht gefiel, sondern aus… aus ganz anderen Gründen.“
Die Klasse hielt die Luft an, in Erwartung der Aufzählung der Gründe. Doch die Lehrerin hatte sich in den Stuhl fallen lassen, ohne Weiteres hinzuzufügen.
Paolo öffnete das Lesebuch und begann, schnell zu skizzieren. Um uns herum erahnte ich zwinkernde Blicke. Er hob die Bleistiftspitze und überreichte mir das Buch.
Es war eine Karikatur der Lehrerin. Es war alles da: der rabenschwarze Pagenschnitt, die weiße, hochgeschlossene Bluse, der krumme Mittelfinger. Aber aus dem Rock ragte ein riesiger Penis heraus. Drunter stand:

…aus ganz anderen Gründen…

Ich hielt mir die Hand vor den Mund, hustete im Versuch, mich zurückzuhalten. Paolo grinste mich verschwörerisch an. Ich begann zu zittern. Er ließ die Kinnlade fallen und mimte dabei ein klangloses Lachen. Obwohl mir der Atem ausgegangen war, schaffte ich es, noch einige Sekunden lang anständig sitzen zu bleiben. Dann gab er mir mit dem Ellbogen einen Hieb zwischen die Rippen. Ich explodierte: Mein Lachen hallte zwischen den Wänden des Klassenzimmers wider, während meine Klassenkameraden sich verwundert umdrehten und die Lehrerin mich entrüstet anstarrte.

Er hatte das Comicheft neun Tage lang behalten und sich jeden Morgen bei mir entschuldigt. Es sei nicht so, dass er es mir nicht wiedergeben wolle, sagte er, es war nur, dass er versuchte, es zu einem Bild zu verarbeiten. Ich tat so, als sei ich ungeduldig, in Wirklichkeit spürte ich eine neue Empfindung: als ob ein Teil von mir, der lange Zeit verkümmert war, zu neuem Leben erwacht wäre und in mir eine seltsame und angenehme Wärme unterhalb der linken Schulter erzeugte, oder oberhalb der Wangenknochen.
„Ich bin fertig, kommst du heute zu mir nach Hause?“
Da war die Leinwand auf einer Staffelei. Er hatte die Hauptfiguren der Episode in einem Wirbel vereint: den Helden, das Mädchen, den Zug, die Felsen.
„Es ist wunderschön.“
„Es ist für dich.“
„Soll das ein Scherz sein?“
Er nahm die Leinwand, rollte sie auf, steckte sie in ein Rohr und legte sie mir in die Arme.
„Kommst du diesen Sommer mit mir in den Urlaub? Meine Eltern haben ein Haus am Meer.“
Warm unterhalb der Schulter, oberhalb der Wangenknochen.
Drei Jahre lang waren wir unzertrennlich.

Wenige Wochen vor dem Abitur hatte er einen Moped-Unfall und brach sich dabei ein Bein und einen Arm. Er musste zwei Monate liegen. Zu Beginn machte er das Beste daraus: Er malte, er hörte Musik. Ich ging ihn jeden Nachmittag besuchen. Wir lernten, lasen. Dann begann er, sich zu verdüstern, schlecht geratene Portraits zu zerknüllen, Musikgruppen zu kritisieren, die er bis einen Monat vorher angehimmelt hatte. Er ließ sich einen Fernseher in sein Zimmer bringen, er ließ ihn immer an, auch nachts. Er sprach sehr wenig.
„Hast du über die Universität nachgedacht?“, fragte ich ihn an einem besonders öden Nachmittag.
„Nein.“
„Ich gehe nach Venedig.“
„Ich nicht.“
Wir verfielen erneut in unsere Stille. Im Fernsehen kam ein alter, langweiliger Zeichentrickfilm.
„Bringst du mir etwas Hasch?“, fragte er mich gedankenverloren.
„Was?“
„Mir tut es überall weh und die Zeit vergeht nicht mehr. Ich möchte mich nur etwas benebeln.“
Ich fand es mit Leichtigkeit. Wir begannen zu kiffen, in seinem Zimmer, jeden Nachmittag. Wir öffneten das Fenster und machten einen Ventilator an, um den Geruch rauszukriegen. Ich fühlte mich entrückt, ich rauchte, um ihm wieder näher zu kommen aber, anstatt ihn wiederzufinden, hatte ich das Gefühl, ihn an einem Ort zu erreichen, wo wir beide allein waren.
Beim Abi warfen sie uns in hohem Bogen raus: die absolute Mindestnote.
Als sie ihm endlich den Gips abgenommen hatten, organisierten wir eine Fete im Dachgeschoss, es kam die halbe Schule und viele andere Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Ich trank und rauchte viel. Nach der Hälfte des Abends war ich benommen und gereizt, ich konnte all diese Gesichter nicht ausstehen. Ich nahm ihn beiseite.
„Ich gehe nach Hause.“
„Du darfst nicht.“
„Warum?“
„Lass mich nicht allein.“
„Es ist ein Haufen Leute da.“
Er fixierte einen Punkt hinter meinem Rücken, ich drehte mich um.
„Haha, da fällst du immer drauf rein. Na trink schon!“
Mir wurde ein Bierglas in die Hand gedrückt.
„Ich mag nicht.“
„Das ist die Regel: Wenn du drauf reinfällst, musst Du trinken!“
Ich entfernte mich mit dem Glas in der Hand, ich trank allein in einer Ecke. Ich hatte pochendes Kopfweh. Ich beobachtete weiter die Leute beim Tanzen, Rauchen und Plündern der Speisekammer. Paolo war verschwunden.
Auf einmal kam er durch die Küchentür und lief auf den Balkon zu. Er sprang hinunter. Ich rannte nach draußen, beugte mich hinaus und sah ihn am Boden zerquetscht, sechs Etagen tiefer. Ich schrie. Ein Dutzend Hände hielt mich fest und auf dem Sofa ausgestreckt, sie gaben mir etwas Warmes zu trinken. Ich schlief.
Am Morgen darauf wurde ich vom Lärm eines Videospiels geweckt.
„Und?“
Paolo saß zu meinen Füßen und spielte.
„Was zum Teufel ist passiert?“
„Ich glaube, Du hast ein Acid genommen.“
„Gar nichts hab ich genommen.“
„Ich hab’s dir gegeben.“
Ich schnellte schlagartig hoch, riss ihm den Joystick aus den Händen.
„Bist du verrückt?“
„Doch nur, damit du bleibst.“
Ich ging hinaus.

Jenen Sommer verbrachten wir nicht zusammen. Anfang Oktober fing ich mit dem Studium an und ließ mich von Anderem einehmen: den Prüfungen, einer besitzergreifenden Freundin, einer Musikgruppe. Ich sah ihn auf einer Party wieder, ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber er war so high, dass er mich nicht erkannte. Er machte mir Angst.
Ich rief ihn einige Zeit danach an, mit auf den Tasten zitternden Fingern. Seine Nummer gab es nicht mehr.
Mindestens einmal im Monat ging ich zu seinem alten Haus, ließ die Namen auf der Klingel Revue passieren.
Klingel, sagte ich mir, hast du Angst?
Nein, ich bin kein Feigling.
Er hat einfach andere Cliquen.
Ich weiß nicht einmal, ob er sich noch an mich erinnert.
Was soll er sich auch darum scheren, mich wiederzusehen.
So verstrichen zehn Jahre.

„Erinnerst du dich an Paolo, unseren Klassenkameraden? Hattet ihr nicht ein Techtelmechtel? Ich weiß, ich weiß, wir waren fünfzehn. Ich versuche nämlich, ihn zu kontaktieren, hast du zufällig seine Nummer? Nein, auf Facebook ist er nicht. Ok, gib den Kindern einen Kuss, man sieht sich.“
„Erinnerst du dich an Paolo, unseren Klassenkameraden? Habt ihr nicht mal im gleichen Grafikstudio gearbeitet? Ach, wirklich? Ich nehme an, dass sie ihn nicht mehr gerufen haben. Hatte er dir eine Visitenkarte gegeben? Blumen und Farben, jetzt suche ich es auf Google. Gibt es nichts? Und die Telefonnummer? Wer weiß, warum er sie ständig wechselt… natürlich, wenn ich etwas entdecke, rufe ich dich an.“

Am Ende des Halbjahres, in dem wir uns angefreundet hatten, kam die Lehrerin auf den Trick des mit der Feile bearbeiteten Würfels. Sie nahm uns erbarmungslos dran und stellte Fragen zum gesamten Programm. Wir taten, als seien wir zu Tode erschrocken, aber innerlich lachten wir. Sie gab uns beiden unverdienterweise „fast ausreichend“ und schickte uns an unsere Plätze zurück.
„Und bevor ich’s vergesse: Den hier könnt ihr behalten!“, sagte sie und bückte sich dabei über ihre Tasche.
Ich stand auf und ging den Würfel holen.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich es geschafft habe, einen Cousin aufzutreiben. Auch er hatte schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Er sagt, dass er gerade versuchte, wieder clean zu werden. Er war alleine gewesen, in seiner Wohnung in Bologna. Die Feuerwehrleute hatten die Tür einbrechen müssen. Nein, er kann mir nichts weiter dazu sagen. Ich weiß nicht einmal, wo er begraben ist.“

Ich durchforstete die Kartons der Gymnasialjahre, ich hoffte, einige seiner Zeichnungen wiederzufinden. Nichts: Ich war so dumm gewesen, sie während eines Umzugs wegzuwerfen.
Aber ich habe den Würfel wiedergefunden.
Ich würfle ihn jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen.
Die Elf und die Achtzehn kommen nie raus.