Sesta edizione 2011 • vincitore sezione editi

Die gefischten Fische

Giacomo Sartori

Giacomo Sartori

Ist Agronom, spezialisiert auf Bodenkulturen und lebt zwischen Trient und Paris. Er publizierte folgende Sammlung von Erzählungen: Di solito mi telefona il giorno prima (il Saggiatore, 1996), Avventure (Senzapatria, 2010) und Autismi (Sottovoce, 2010), und die Romane Tritolo (il Saggiatore, 1999), Anatomia della battaglia (Sironi, 2005), Sacrificio (Pequod, 2008) und Cielo nero (Gaffi, 2011). Außerdem ist er Redakteur des Literaturblogs Nazione Indiana.

BegrÜndung der Jury

Ein sicherer, erwachsener, chirurgischer Schreibstil – übrigens in diesen Jahren schon mehrmals von maßgebenden Kritikern ausgezeichnet – kennzeichnet diese Erzählung, die dem Band "Autismi" (Autismen) entnommen ist, ein Titel der seinerseits eine weitere Auslegung des literarischen Universums des Autors darstellt. Vor diesem Hintergrund bringt eine unerbittliche Vivisektion scheinbar minimaler, belangloser, alltäglicher, wiederholter, banaler Ereignisse – mit einem Rhythmus, der mal noir, mal surreal und mal sardonisch ist – den Horizont sowohl desjenigen, der schreibt als auch desjenigen, der liest, ins Wanken. So gibt das Fischen Anlass zu waghalsigen, nie lauten sondern stets nur angedeuteten, gar leise geflüsterten Abschweifungen. Und die "verzehrende Freude" des Fisches, der anbeißt ist der Vorbote für weitere Freude, weiteres Leid...

IL RACCONTO

Es gab einmal eine Zeit, in der ich Fischer war. Ein Fischer mit einer Angelrute ohne Rolle, oder noch öfter mit der Angelschnur zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand geklemmt. Auf den Molen, auf den Felsen. Ich mochte den Sog, der durch das Anbeißen der Fische entsteht, wenn sie heftig nach unten ziehen. Ich mochte die Vorbereitung und die Pflege meiner noch so rudimentären Ausrüstung. Und die eigensinnigen Warenhäuser, wo ich die Angelhaken, die unterschiedlich dicken Schnüre, die Schwimmer und den Rest fand. Besonders gern mochte ich die Angelbleie, ihre schmierige, jedoch energische Nachgiebigkeit. Vor allem mochte ich es natürlich zu warten.
Ich mochte das Warten darauf, dass ein Fisch anbeißt, wie ich es auch heute noch mag, darauf zu warten, dass etwas passiert. Natürlich ist diese Freude kein ein echter Genuss, und noch weniger eine Form von Jubel: Sie hat im Gegenteil etwas mit Verzicht zu tun, und vielleicht auch mit Leid. Doch es ist immerhin eine verzehrende Freude. Das Warten enthüllt immer etwas Verzehrendes, etwas hoffnungslos Unschuldiges, etwas Kathartisches, wenn man es auf die richtige Art und Weise zu nehmen weiß: Dies ist der Grund, weswegen ich drei Viertel meines Lebens wartend verbracht habe, und weswegen ich eigentlich noch immer nicht viel anderes tue als warten.

Ich bin ein Mensch, der wartet. Ich besitze kein Handy aus eben diesem Grund: Es würde mich der Wartezeit rauben, oder auf jeden Fall würde es sie mir vergällen, wie es nach dem, was ich sehen und hören kann den Menschen beim Hantieren von Handys widerfährt. Ich ziehe es vor, dass das Objekt meines Wartens so lang wie möglich mysteriös und abstrakt bleibt, schweigend. Während ich warte, gebe ich mir natürlich Mühe, selbstverständlich laufe ich nach rechts und nach links wie heutzutage jeder tut, doch in meinem Inneren bin ich einfach dort, mit den Armen über Kreuz und warte: Der Rest ist nichts als Schau. Ich sehe die Grenzen meiner Neigung allzu gut, aber ich schaffe es nicht, mich zu bessern oder auch nur Reue zu verspüren. Jeder hat seine Schwächen und seine Laster.
Ich war als Fischer ein Autodidakt, so wie ich auch sonst immer ein Autodidakt gewesen bin, in all dem, was ich getan habe. Ich hatte daher den Eindruck, die Dinge nicht auf die beste Art und Weise zu tun und dass das Wissen der Anderen – sie wussten es wohl – mir vorenthalten sei. Aber ich kam jedenfalls alleine zurecht: Ich war schüchtern, und vor allem wusste ich nicht, dass man Menschen etwas fragen kann. Ich sollte es, auf unvollkommene Weise, erst einige Jahrzehnte später lernen. Indem ich mich alleine durchkämpfte, beging ich sicher viele eindeutige Fehler. Vielleicht nicht wieder gutzumachende Fehler. Ich könnte sie aber nicht nennen, da ich eben keine Anhaltspunkte habe. Fakt ist, die Fische bissen an. Nicht sehr oft, aber sie bissen an.

Es bissen silbrig schimmernde und eiförmige Fische an, oder längliche und aschgraue, einfarbige oder gestreifte, Fische mit Schnurrhaaren, manchmal mit einem smaragdgrünen Streifen auf der Seite. Ich kannte die Namen der Fische, die ich fischte, nicht. Für mich waren es einfach Fische.
Nach der anfänglichen Konsternation waren meine Familienangehörigen froh, dass ich fischte. Sie betrachteten Fischen als eine an und für sich volkstümliche und daher zu verachtende Tätigkeit, aber sie hatten sofort bemerkt, dass ich beim Fischen äußert konzentriert war: Ich störte sie nicht. Für mehrere Stunden brach ich nicht in jene hysterische Szenen aus, die aus Gründen, die ihnen unwichtig erschienen, entstanden und mir unzählige Elektroenzephalogramme und Besuche beim Kinderpsychiater beschert hatten. Ihre Billigung meines Interesses für den Fischfang war auf opportunistische Gründe zurückzuführen und nicht auf ihren brennenden Durst nach Nonkonformismus. Jene Art von eigennütziger Zustimmung, die früher oder später ans Licht dringt und verletzt. Sie vertrauten wahrscheinlich darauf, dass im ausschlaggebenden Moment an ganz andere Dinge gedacht werden müsse. Sie täuschten sich nicht.

Auf den Molen traf ich andere Fischer, Menschen unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Haltung. Ich erlebte zum ersten Mal eine Tätigkeit, die verbindet. Jene Menschen unterschieden sich stark von mir, aber alle waren wir Fischer und daher zu jener genauen Gegebenheit alle gleich. Es stimmte zwar, dass ich ein sehr junger Fischer war, bei weitem der jüngste, ein richtiges Kind noch, aber sie ließen es einen nicht spüren, es wurde sogar bewusst verschwiegen, und dies schweißte noch enger zusammen. Ich wurde angenommen für das, was ich war.
Selbstverständlich war das Saugen des ziehenden Fisches ein Vorgeschmack auf das Hinaufsaugen des Glieds durch die Scheide; selbstverständlich waren die Zuckungen im Wasser eine Ankündigung des Bebens nach dem Orgasmus. Ich kenne keine andere Tätigkeit, die unmittelbarer an die Penetration denken lässt als das Fischen mit der Schnur. Später einmal sollte es dann das Warten darauf sein, dass eine Frau auftauchte, die sich dazu entschied, mich anzusehen, darauf, dass etwas Ähnliches wie das rasende Schnellen und Zucken des geangelten Fisches geschah. Zu jener Zeit konnte ich jedoch noch nicht die Grausamkeiten des Erwachsenenlebens erahnen: Meine Freude erschöpfte sich in der reinen Freude an der Leine, die heftig zieht. Heute frage ich mich, ob die meisten Fischer diese Parallele tatsächlich nicht ziehen. Wahrscheinlich tun sie es, und ob sie es tun, und der Spaß besteht auch darin. Oder vielleicht ist es ein Nachtrauern.

Heute könnte ich nicht mehr fischen. Ich könnte nicht einmal daran denken, dass ein Lebewesen einen Angelhaken im Rachen stecken hat und dass ich es war, der ihm diesen Haken eingepflanzt hat. Ich könnte jenen anhaltenden Schmerz nicht ertragen, der durch die unbewussten Bewegungen nur verschlimmert wird. Ich könnte mich nicht mehr jenem wütenden Leid entziehen. Doch zu jener Zeit stellte ich mir solche Fragen nicht. Mit dem Alter wird man sensibler, auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird. Man ist verletzlicher. Man denkt an den Tod und versetzt sich dabei in die bedauerliche Lage des Fisches.
Ich war wohlgemerkt ein unregelmäßiger Angler, da ich in einer Stadt wohnte, die geographisch und kulturmäßig weit vom Meer entfernt war. Aber ich war trotz allem ein Fischer. Als solcher wurde ich vom Ehemann der Haushaltshilfe meiner Oma eingeladen, mit ihm fischen zu gehen. Eine würdevolle und unter manchen Gesichtspunkten ernsthafte Einladung, von Fischer zu Fischer sozusagen. Eines Sonntags führte er mich an das steinige Ufer eines großen künstlichen Sees, wo es lange Forellen gab, und Karpfen. Diesmal waren die Namen kein Rätsel, weil er sie mir nannte.

Mein Vater war der Einzige in der Familie, der Fisch mochte, und aufgrund der revolutionären Neigung seines Faschismus hatte er an volksnahen Tätigkeiten nichts auszusetzen. Wenn ich jedoch nach Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Fischen suche, finde ich nichts. Als ich fischte, war er nicht da, genauso wie er auch bei allen anderen Dingen, die ich tat, abwesend war. Körperlich, aber vor allem geistig abwesend.
Mein Problem, und es gibt immer eins, waren die Fische, die anbissen. Ich war schon froh, sie gefangen zu haben, das war es nicht. Ich wusste, dass dies das Ziel war, und auch meine Freude lag ohne Zweifel darin. Ich vermochte es jedoch nicht, sie anzufassen und sie mit der Hand vom Haken abzunehmen. Ich konnte sie nicht in der Hand drücken, so wie ich es gesehen hatte, und den Haken aus dem Fleisch herausreißen. Es war mir wirklich unmöglich. Schon damals war es unmöglich. Ich brauchte daher jemanden, der es an meiner Stelle tat. Einen aus der Familie, oder einen Passanten. Ich war kein autonomer Fischer, würde ich heute sagen, dank der angehäuften therapeutischen Kenntnisse. Genauso, wie ich auch in vielen anderen Dingen nie autonom gewesen bin.