Sesta edizione 2011 • vincitore premio Cassa Rurale

Die wundersame gaschichte eines toten krebses

Simone Simoni

Simone Simoni

Ist 24 Jahre alt, lebt in Transacqua (Trient) und hat einen Studienabschluss in Sprachwissenschaften und modernen Kulturen an der Universität von Padova erlangt. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums spezialisiert er sich nun in Trient. Er liebt die Berge, das Reisen und die Tatsache neue Kulturen und Orte zu erforschen. Außerdem ist er sehr sportbegeistert, vor allem interessiert er sich für das Wandern und den Radsport, den er auch auf professionell praktizierte. In seiner Freizeit widmet er sich vor allem der Musik, der Kunst und der Schriftstellerei.

BegrÜndung der Jury

Eine Erzählung mit surrealem Charakter, die ironisch und nicht ohne einer leichten Spur resignierter Melancholie die Widersprüche unserer Zeit thematisiert. Sie tut es mit einem originellen Ansatz: Indem sie den Blickwinkel eines Krebses annimmt, und somit – ganz und gar – rückwärts läuft. Im Rahmen dieses Erzählens mit dem Ende beginnend, wird der Leser zu einer Reise eingeladen, in der auch unbequeme Fragen nicht fehlen. "Eine kleine Geschichte, um das Eis zu brechen", die ein bitteres Lächeln zurücklässt.

IL RACCONTO

Endlich beginnt sie, am 31. Februar. Oder, wartet noch, am Ende beginnt sie. Nein, gar nichts beginnt. In dem Augenblick, in dem ihr lesen werdet, wird hier alles schon längst fertig sein, und ich werde schon etwas länger als ziemlich lange unter der Erde sein, da ich gestern gestorben bin. Und gestern ist schon eine ganze Weile her, auch wenn es scheint, als wäre alles erst gestern gewesen. Am Anfang hätte es schlimmer kommen können. Es hätte schlimmer kommen können als das Allerschlimmste, das sich mein Gehirn ausdenken könnte, aber macht nicht viel Wesens darum. Letztendlich, wenn das Letzte unser Erstes ist, hat sich alles noch zum Besten herausgestellt, zum soundsovielten Male. Und nun sind wir hier gelandet, ich und ihr, in zwei unterschiedlichen Zeiten und Orten, oder vielleicht am selben Punkt ohne Ende und ohne Anfang, um über dieses und jenes zu reden. Mehr über dieses als über jenes, ehrlich gesagt, aber was heißt schon ehrlich? Sind wir schließlich nicht alle von diesem nebligen Meer von Zweifeln und Unsicherheiten umgeben, die unsere versteckten Ängste verschlingen?
Entschuldigt bitte meine Abschweifungen, worüber haben wir noch geredet? Es ist nicht wichtig, wichtig ist zu verstehen, was uns hierhin geführt hat, was uns dazu geführt hat, diese Erzählung schreiben oder lesen zu wollen. Punkt, und Komma; manchmal, wisst ihr, wenn ich die Augen öffne, sehe ich schwarz und manchmal, wenn ich sie schließe, sehe ich rötliche Farbtöne, die um die Wette laufen und pulsieren in einer Dimension, die weder Tag noch Nacht ist, weder Leben noch Tod. Ängste und Zweifel, darüber haben wir geredet. Vielleicht nicht, die wahrscheinlichste Möglichkeit ist, dass wir über nichts redeten, oder besser gesagt, dass ich über nichts redete. Worüber sollten wir auch reden? Besser wäre es, zu schweigen und sich Mühe zu geben in dieser Krisenzeit, werdet ihr wohl meinen, und ihr habt Recht, wenn ihr an das denkt, woran ich auch denke. Bevor wir beginnen, ein Vorwort: Auch wenn wir hier alle gleich sind, alle aus derselben Materie und derselben Energie geschaffen, kommen wir fast alle aus unterschiedlichen Orten, und die meisten von uns kennen sich nicht und haben sich noch nie vorher gesehen, bevor auch nur irgendetwas beginnen kann, sind also Vorstellungen unerlässlich. Aber ich bitte euch, stellt euch nicht mit Vor- und Familiennamen vor und mit den üblichen Floskeln. Stellt euch mit einem Wort vor, einem Geräusch, einem Klang, einer Geste, einem Blick… Getan? Da wir nun das Ritual befolgt haben, kann ich beginnen, euch meine dumme Geschichte zu erzählen, deswegen sind wir hier, glaube ich.
.nesberK netot tim llov tooB nie ,nesberK nethcsifeg tim llov tooB niE :leztemeG sethce nie se bag gaT med nA .sberK retot hcielg tsi sberK rethcsifeg ,etgelfp negas uz remmi rim apO niem eiW .thcsifeg hci edruw snebeL seniem ganfnA ma dnu ,sberK nie nib hci ,nella hcue gaT netug nenöhcs neniE
Wartet, ihr werdet vielleicht schon etwas durcheinander sein. Ihr müsst wissen, dass in der Welt der Krebse, die ein bisschen auch eure Welt ist, alles rückwärts funktioniert, alles das Gegenteil von allem ist. Wir schreiben und leben vom Ende bis zum Anfang. Die Grenzen der Dinge verbergen sich in ihrer Mitte. Zuerst stirbt man, und dann wird man geboren. Die Liebe wird immer verbraucht, bevor sie sich entfaltet. Die Idee kommt eine gute Weile nach der Tat. Zuerst geht man aufs Klo, und erst dann kann man vielleicht essen. Sechs verschiedene Arten von Rückwärtsgang in Gran Turismo-Autos. Kurzum, ich glaube, ihr versteht was ich meine. Gut, natürlich musste man als Allererstes sterben... danach, in den meisten Fällen, erlitt man schlimmste Schmerzen, Ängste, Langeweile. Man fühlte sich weise, aber müde, des Lebens fast überdrüssig. Aber mit der Zeit schwächte sich alles ab, die Kräfte kehrten allmählich zurück und man konnte endlich leben und zum Boccia-Spielplatz für Krebse gehen. Zum Nachtclub, und dort den Krebsfrauen beim Tanzen ohne Schale zuschauen. Ich erinnere mich, dass man fast jeden Abend zum Krebsscherenkampf ging. Kurzum, zwischen einem Schwimmen und dem nächsten fühlte man sich immer besser. So gut, dass es mir irgendwann vorkam, dumm und schachsinnig geworden zu sein, die Anweisungen für das Glück haben manchmal diese Nebenwirkungen. Auf jeden Fall hatte ich irgendwann nichts mehr, worum ich mir hätte Sorgen machen müssen. Meine jungen Krebse starben und ich, da ich keine Verantwortung mehr trug, lebte in den Tag hinein, improvisierend. Ich spielte sorglos mit den anderen Krebsen und hatte nicht einmal mehr Lust, mit einer appetitlichen Krebsfrau anzukrebsen. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann in eine weiße Schale eintrat. Das ist das letzte der wundersamen Welt der Krebse, woran ich mich erinnern kann. Dann erwachte ich an einem seltsamen Ort. Ich kann nicht sagen, ob es dort Luft gab. Es war eine gallertartige Atmosphäre. Aber es war warm, das kann ich ihnen sagen. Sagen wir mal, dass das Klima zwischen temperiert und tropisch schwankte und es stets genug zu essen gab. Ich wusste nicht, wie ich dort drinnen aß, noch was ich aß. Die Zeiten der endlosen Essereien mit Plankton der Marianen und Mexiko-Algen waren vorbei. Ich bin sicher, dass jene Substanz mich ernährte, aber ich wurde immer kleiner, bis ich kaum grösser als ein Fisch wurde, fast eine Kaulquappe, und mich dann, zu meiner großen Überraschung, in ein Atom verwandelte. Und schließlich in einen Quark. Und dann in den ersten Energiewirbel, der jenem All Leben eingehaucht hatte. Dann bemerkte ich, dass es mich nicht mehr gab, oder besser, ich war alle Dinge und keins davon. Ich hatte die Grenze überschritten, von der ich am Anfang meiner Geschichte begonnen hatte, ich war Nichts und Alles zugleich. Wenn ihr wüsstet, es war alles so einfach, dort zu verweilen, in all dieser Abwesenheit von Farben, Materie und Energie. Und nun, da ich wie jeder ehrwürdige Krebs gestorben und geboren bin in meiner lieben, verrückten Krebswelt, kann ich euch sagen, auch wenn es euch unwahrscheinlich erscheinen wird, dass die Welt ein Rad ist, das sich in zwei Richtungen gleichzeitig dreht, in die Richtung der Krebse und die der Nicht-Krebse. Am Zoll zum Nichts sah ich unzählige Leben an mir vorbeiziehen, die die Grenze in beide Richtungen überquerten. Ich bemerkte, dass jene Grenze ähnlich war, wie die, die ich überquert hatte, als ich gefangen wurde, vor langer Zeit. Ja, dachte ich, es war vermutlich sogar dieselbe Grenze. Fragt mich nicht, wie ich es merkte, denn ich bin nichts als ein armer Krebs und verstehe nichts von diesen Dingen. Schaut mich nicht mit diesen Gesichtern an, es wurde mir bewusst, dass meine eine doppelte Runde war, die an denselben Punkt führte, und dass alles ein Kreislauf gewesen ist. Ein einziger Kreislauf von unzähligen Kreisläufen. Ein Herzschlag in einem Leben. Ein Punkt auf einer Linie. Nun, nach diesem Abenteuer habe ich mir in den Kopf gesetzt, dass alles kreisförmig ist und sich um seine eigene Achse dreht. Und ich bin ein Krebs. Aber erst nach diesem Augenblick, den ihr Leben nennt, habe ich verstanden. Ich sehe weiß, nicht mehr schwarz. Weil diese neue Ewigkeit etwas anders ist. Ich würde sogar behaupten, etwas bewusster. Als ob sie alle Anwesenheiten miteinschließen und jede Abwesenheit ausschließen würde. Weiß ist, wie ihr wisst, die Summe und die mystische Union aller Farben und heute, während ich zu euch spreche, bin ich hier. Ein Partikel in einem unendlichen, ewigen Strahl. Und nur eins möchte ich euch sagen, jetzt habe ich keine Zweifel mehr. Und ich war ein dummer Krebs, als ich dachte, dass alles nur Zweifel sei, jener böse Zweifel, Hausmeister des Lebens und Feudalherr jeglicher irdischen Illusion, trocken wie eine Rose im Sommer und zugleich feucht wie der Atem eines Sumpfes. All meine Fragen führten zu Nicht-Antworten, aber ich hatte übersehen, dass jene Ungewissheit durch die Endlichkeit des Lebens bedingt war, die Endlichkeit jenes Lebens. Nach meinen Berechnungen steht Eins zu Endlos wie Endlos zu Eins. Nun weiß ich, dass nichts Zweifel und nichts Gewissheit ist, weil es nichts gibt, worüber man zweifeln oder wessen man sich sicher sein könnte, weil es nichts zu wissen gibt. Nichts. Das Nichts ist Alles. Es ist äußerst klar, wie man zur Lösung des Problems kommt. Jedenfalls bin ich wie ihr wisst nichts anderes als ein armer Krebs und ihr werdet denken, dass im Nachhinein zu sprechen ein Leichtes ist. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mein imaginäres Haus zu bauen mit diesen verworrenen digitalen Zeilen. Weil heutzutage Häuser nicht mehr aus Tinte und Papier gebaut sind. Sondern aus Pixeln. Lichtsachen. Abstrakt. Da würde nicht einmal der kleinste der Krebse reinpassen. Man bedenke, dass man in der Vergangenheit zuerst das Dach und dann die Grundmauern baute. Heutzutage, auch beim Erzählen von Geschichten wie dieser gerade erzählten, tastet man sich improvisierend vor, durch Zufall, ohne jeglichen Respekt für Logik. Alles und das Gegenteil von allem. Es scheint fast, dass man sich im Kreis dreht, findet ihr nicht? Auf jeden Fall ist es vielleicht besser, dass ich aufhöre, euch davon zu erzählen. Erinnert euch nur daran, dass ich ein Krebs bin, irgendwann gestorben bin, gelebt habe und geboren bin. Und dies, meine Freunde, war nur eine kleine Geschichte, um das Eis zu brechen. Es ist unwichtig, ob ich euch gelangweilt habe oder ihr nichts verstanden habt, ich wiederhole es noch einmal, es gibt nichts zu verstehen, wirklich. Aber nun seid ihr dran, eure Grenzgeschichte zu erzählen.

Black-Out. Die Abendstille bricht ein. Draußen ist Winter, alles ist weiß, und das ist nicht die Welt der Krebse, nicht das Paradies, und wahrscheinlich nicht einmal die Hölle. Es ist kalt, und die Glockenschläge des Kirchturms erinnern mich an die Begriffe Zeit und Tod. Ich wundere mich nicht, dass man draußen keinen Laut hört. Der Bildschirm ist ausgestellt, aber ich beharre darauf und drücke wieder und wieder auf die weißen und schwarzen Tasten, mit geschlossenen Augen. Gedrückt und wieder losgelassen. Laut und still. Abwechselnd und zugleich unsichtbar kontinuierlich, flüssig und vereint. Das unregelmäßige Ticken der Tastatur hört sich fast wie ein Kanarienvogel an, der in einem Maistank rumflattert. Der Wind heult. Das stimmt nicht, ich brauchte eine szenische Abtrennung. Es weht kein Lüftchen jenseits der Gardinen, wo ich eine verlassene Landschaft beobachte wie durch das Guckloch eines Raumschiffes. Am Horizont hat sich nun das letzte Feuerlid geschlossen, und es verbreitet sich der schwarze Sog der Nacht. Allmählich erleuchtet der Mond die leere Szene wie eine müde Randbezirk-Laterne. Pünktlich macht er seinen himmlischen Spaziergang. Die Welt, metallisch und silbrig wie eine Lokomotive, bleibt dort. Schwebend in ihrem grenzenlosen Zweifel, vorwärts und rückwärts, auf seinen verrosteten und ziellosen Gleisen.