10. preis 2019 • Gewinner - Veröffentlichte Beiträge

Die Hand Gottes

Renzo Brollo

Renzo Brollo

Renzo Brollo wurde 1971 in Gemona del Friuli (Provinz Udine) geboren, wo er lebt und arbeitet. Er beschreibt sich selbst als einen zwanghaften Leser. Seit 2009 ist er Mitglied der Redaktion von Mangialibri, für die er Bücher liest und rezensiert. Er hat es in die Endrunde des Teramo-Preises 2007 geschafft, war Zweitplatzierter bei den Preisen Leggimontagna 2016 und Moak 2018 und hat 2017 den La Quara-Wettbewerb gewonnen. Seine Werke sind bei dem Verlag Cicorivolta Edizioni (Racconti Bigami, Se ti perdi tuo danno, Mio fratello muore meglio und Metalmeccanicomio), bei Edizioni della Sera (La fuga selvaggia) und bei Bottega Errante (La montagna storta) erschienen. Im Juli 2019 veröffentlichte der Verlag Diastema Editrice seinen neuesten Roman Il guaritore (Der Heiler), inspiriert von der Figur des Kastratensängers Carlo Broschi, besser bekannt unter dem Namen "Farinelli".

BegrÜndung der Jury

Die Jury des Preises "Frontiere-Grenzen" hat beschlossen, den ersten Preis für unveröffentlichte Erzählungen der Geschichte "La mano di Dio", "Die Hand Gottes", zu verleihen. In trockener und doch lebhafter Schreibart evoziert der Autor auf wirksamer wirksame Weise Landesatmosphären und Naturmilieus (die Landgegend rund um den Fluss Tagliamento herum), so dass es ihm auf wenigen Seiten gelingt, den Leser zu überraschen und zu bezaubern. Er führt ihn dabei mit sicherer Hand durch die Nervatur einer in sich geschlossenen, stilistisch klaren und erzählerisch keinesfalls banalen Geschichte. Bewundernswert sind besonders die Reife und Frische einer Komposition, der es trotz dem geringen Umfang einer Kurzgeschichte gelingt, eine Allegorie der Trauer zu umreißen, die vorzeitige Trauer eines Kindes, das viel zu früh seine Mutter verloren hat. Das Leid verschmilzt mit sanfter Freude, Rührung und Bestürzung verwandeln sich in träumerisches Staunen. Dank der Kraft einer sinnbildlichen Erfindung (eine Hand Gottes) suggeriert der Text zudem eine Reflexion über die Heilkraft der Phantasie, und zwar mit erfreulichen Ergebnissen: Kraft seiner Originalität, der Klarheit seiner Bilder sowie der Wahrhaftigkeit der Dialoge vermag hier die Kurzform der Erzählung verschiedene Töne der Ausdrucksskala zu mischen, indem sie ein wischfestes Fresko skizziert, das in seinem eigenen Licht erstrahlt. Und dieses Leuchten ist das besondere Licht, das eine wirklich gute Erzählung ausmacht.

ErzÄhlung

Bei der Beerdigung sagte Schwester Carla zu mir: Jetzt ist deine Mutter in den Händen von Gott, der sie brauchte – und ich glaubte ihr. Sie weinte. In der Kirche weinten alle. Ein Strom von Tränen, den ich zwischen den Gängen und Säulen von San Eustachio meinte fließen zu sehen. Sie, die die Schuhe der Leute reparierte, wäre darüber nicht glücklich gewesen. Das Wasser ist der Feind des Oberleders, sagte sie mir. Es lässt es altern, sodass die Schuhe von schönen Damen zu alten Hexen werden.

Am Abend, zurück vom Friedhof, waren es nur ich und mein Vater, die zu Hause zurückblieben und die Schatten des Geschirrs auf dem noch immer gedeckten Tisch betrachteten. Irgendwann ging er, ohne etwas zu sagen, in den Keller hinunter, und als ich nach einer Weile nachsah, was er tat, sah ich, dass er auf dem Boden saß und ein Fass umarmte. Er war so eingeschlafen, mit einer Art traurigem Lächeln auf den Lippen. Vielleicht träumte er davon, Mutter zu umarmen, wer weiß? Ich legte ihm eine Militärdecke über und ging ins Bett. Ich wollte ihn nicht aufwecken. Er hätte wieder zu weinen angefangen, und ich mit ihm. Und ich will nicht mehr weinen, sondern nur verstehen, wo Gottes Hände sind. Seit mir Schwester Carla das gesagt hat, kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken. Wenn es Gott gibt, wie eine rote Inschrift an der Mauer der Überführung behauptet, dann gibt es auch seine Hände. Und wenn es seine Hände gibt, gibt es auch meine Mutter.

- Ist Gott groß?, fragte ich die Nonne, als ich wieder zum Katechismus ging.
- Natürlich, antwortete sie.
- Warum kann ich ihn dann nicht sehen?
- Weil du nicht an der richtigen Stelle suchst, sagte sie mir, während sie mein Haar zerzauste.
- Und wo ist die richtige Stelle?
- Die Natur. Du musst die Natur ansehen. Dort ist Gott.

So begann ich, die Wälder und Wiesen und den Himmel und das Gras zu betrachten, aber Gott sah ich nicht. Ich beobachtete unsere Katze, den Hund des Nachbarn, seine Flöhe, Schmetterlinge, Spatzen und Schwalben, aber Gott sah ich nicht. Bis eines Tages ein Bischof kam, um uns auf die Erstkommunion vorzubereiten.

- Seht ihr, Kinder?, sagte er und zeigte uns ein Foto des Tagliamento. - Die Natur ist die Form Gottes. Wenn ihr den Fluss, der in der Nähe eures Dorfes fließt, von oben betrachtet, könnt ihr sehen, dass er der Arm Gottes ist. Schaut mal, sehen diese Wasserstraßen denn nicht wie Venen und diese Sandzungen nicht wie Sehnen und Muskeln aus? Hier, die Schulter ist der Berg und die Hand die Mündung. - Als ich diesen Satz hörte, richteten sich mir die Haare auf dem Kopf auf.

- Und wo ist die Mündung?, fragte ich. - Wo ist die Hand Gottes?
- Dort, wo alle Flüsse hinfließen, sagte der Bischof mit einem schönen Lächeln.
- Am Meer, wo es Fische gibt, die übrigens wir Christen sind.

Als ich zu meinem Vater nach Hause zurückkehrte, setzte ich mich neben ihn auf die Couch. Der Fernseher war an, aber er schien nicht fernzusehen. Er starrte auf einen Punkt an der Wand, hinter dem Bildschirm.

- Papa, habe ich ihm gesagt. - Morgen will ich dorthin gehen, wo die Hand Gottes ist. Ich will Mutter finden.
- In Ordnung, antwortete er, auch wenn ich nicht glaube, dass er mir zuhörte.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Im Wohnzimmer fand ich meinen Vater in der gleichen Position sitzen, in der ich ihn zurückgelassen hatte, als ich ihm den Gutenacht-Kuss gegeben hatte. Er sah fern, ein Matratzenverkaufssender. Ich frühstückte, ließ ihm seinen Kaffee auf dem Tisch und ging an die Talsperren, die den Tagliamento aufhalten und einen kleinen See bilden, wo ab und zu jemand angeln geht. Dann fließt der Fluss weiter und bewegt sich zur Hand Gottes hinab. Direkt bei den Sperren lebt Fiorello, der ein Boot hat und die Schleusen bedient. - Wehe Euch, wenn ihr das Boot auch nur berührt, sagt er uns Kindern jedes Mal, wenn wir schwimmen gehen. Aber ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht: Wenn ich den Arm Gottes weiter verfolgen will, muss ich es nehmen.

- Was glaubst du, wo du da hingehst?, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um, und auf der Treppe, die zum Fluss hinunterführt, stand Ennio, der Dorfverrückte.
- Ich muss das Boot nehmen, dann bringe ich es zurück.
- Das darfst du doch nicht.
- Ich muss zum Meer, antwortete ich ihm, während ich hineinsprang. Ennio legte den Kopf zur Seite, wie es die Hühner tun.
- Wofür?
- Da befindet sich die Hand Gottes, und auch meine Mutter. Ich gehe sie zurückholen. - Als ich ihm das sagte, leuchteten seine Augen. Mit zwei Sprüngen erreichte er das Boot.
- Und wer hat dir gesagt, dass sich die Hand Gottes im Meer befindet?
- Die Nonne und der Bischof.
- Du bist der Sohn der Schuhmacherin, nicht wahr?, fragte er mich. - Darf ich mitkommen? - Natürlich, antwortete ich ihm, ohne darüber nachzudenken, denn ein wenig Gesellschaft passte mir ganz gut, und Ennio war sehr glücklich in das Boot gesprungen.
- Du musst mir noch genau erklären, was sie dir gesagt haben, rief er aus, während er das Boot mit den Rudern vom Ufer wegstieß.

Und so fuhren wir los, ohne dass uns jemand zusah. Das Wasser war ruhig, hellblau, es schien es nicht eilig zu haben, zum Meer zu gelangen. Ennio paddelte zur Mitte des Flusses und während wir vor uns hinglitten, erzählte ich ihm von dem Foto, dem Arm, den Muskeln, den Nerven und dem blauen Blut des Tagliamento, und Ennio hörte mir mit weit geöffnetem Mund zu. An bestimmten Stellen war das Wasser so flach, dass wir die Steine gegen den Boden des Bootes kratzen hörten, aber Ennio ruderte weiter und ließ es schaukeln, als ob er es wiegen würde, damit es einschläft und er verhindern wollte, dass es aufgrund all dieser Schläge weinen konnte.

- Und warum willst du dorthin gehen?, fragte ich ihn, als wir unter einer Brücke durchfuhren. Dort oben konnte man das Geräusch von Autos hören, aber es war, als wären Ennio und ich unsichtbar geworden. Wir bewegten uns, und niemand konnte uns sehen. Ennio stand auf und lächelte mich an.

- Weil ich ihm die Hand geben und ihm gratulieren möchte!

Die Sonne stand mittlerweile hoch über dem Boot, aber zum Meer hin war der Himmel ganz schwarz. Der Reflex des Lichts auf dem Wasser war so stark, dass ich meine Augen schloss. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich der Tagliamento verändert. Die Ufer waren weiter weg, das Wasser grüner und tiefer. Der Himmel über uns, ganz schwarz.

- Du bist eingeschlafen, sagte mir Ennio.
- Wo sind wir hier?, fragte ich, während ich mir die Augen rieb.
- Weit vorgedrungen im Arm Gottes. Ich glaube am Handgelenk, antwortete er ernsthaft. - Aber schau, Gott scheint nicht sehr glücklich zu sein, uns zu sehen.

Das Boot begann, die kleinen Wellen auf und ab zu klettern, die uns anscheinend dorthin zurückdrängen wollten, wo wir hergekommen waren. Ein starker, stürmischer Wind stieg an und seltsame grüne Wolken erschienen am Himmel.

- Du musst mir helfen, sagte Ennio und gab mir ein Ruder. - Alleine schaffe ich es nicht. Ich begann zu rudern und versuchte, es ihm nachzutun, zwischen den Spritzern von kaltem Wasser, die mir ins Gesicht schlugen. - Es ist salzig, sagte ich Ennio, der sich mit seiner Zunge über die Lippen fuhr und nickte. - Wir haben fast die Hand Gottes erreicht. Schau da drüben, da ist der Leuchtturm von Bibione. - Zwischen den Spritzern und Blättern der Bäume sah ich die Form des Leuchtturms und dahinter ein metallfarbenes Meer. Ich begann wieder zu rudern, ohne den Himmel noch den Sturm anzublicken, verängstigt, aber entschlossen, meine Mutter zurückzuholen. Ich hörte Ennios Stimme reden, verwoben mit dem Wind und dem Geräusch der Wellen, die gegen das Boot schlugen. - Wir sind in der Hand Gottes. Schau dir seine Finger an.

Ich öffnete meine Augen und drehte mich um. Fünf graue Säulen erhoben sich aus dem Meer und verschwanden in den Wolken. Sie bewegten sich schwingend, als ob sie nach etwas suchten. Um uns herum verschwanden die Ufer des Tagliamento, und die Wellen führten uns ins offene Meer, fast ohne dass wir rudern mussten. Die Finger aus Wasser und Wolken bildeten einen Kreis um uns herum, sie schienen im Rhythmus des Windes zu tanzen. Als ich angstvoll sah, wie sich der schwarz-grüne Himmel um diese riesigen Finger wandte, fühlte ich einen trockenen Schlag gegen die Bootsflanke. Ich blickte hinunter und sah, wie die Handfläche des Meeres, mit Schuhen übersäht, zwischen Gottes Fingern eingeschlossen war. In allen Formen und Farben schwammen sie auf der Wasseroberfläche. Sie bewegten sich, als ob sie auf dem Wasser gingen, geführt von unsichtbaren Beinen. Schuhe, Schühchen, Wanderschuhe, Stiefel. Die Schnüre verknoteten und verwickelten sich.

- Was machen denn all diese Schuhe in der Hand Gottes?, fragte Ennio und erhob dabei seine Stimme, denn der Wind wurde immer stärker. Dann erinnerte ich mich an Schwester Carlas Worte und verstand. Gott brauchte meine Mutter. Das Meer ist voller Schuhe, die gerettet werden müssen, weil das Wasser sie ruiniert. Er hatte sie zu sich genommen, weil sein Vater ein Schreiner war und kein Schuhmacher. Ich legte meine Hand ins Wasser und zog einen schönen, eleganten schwarzen Lederschuh hoch. Das Obermaterial war bereits zerknittert und sicherlich hätte meine Mutter gewusst, wie man es schützt. Ich legte ihn wieder ins Wasser und rief zu den Fingern Gottes.

- Meine Mutter weiß, was zu tun ist, sie wird dir helfen!

Ennio sah mich an und lächelte. In diesem Moment näherte sich ein Finger aus Wasser dem Boot und Ennio hob seine Hand. Durch die salzigen Spritzer brannten meine Augen so stark, dass ich sie schließen musste. Aber unter den Tränen des Meeres sah ich Ennios Arm in den Finger Gottes eindringen, der ihn vom Boot in den Himmel hob. Ich versuchte, ihn an den Füßen zu packen, aber Ennio trat um sich, als wolle er keine Hilfe, und zwischen dem Pfeifen des Windes und dem Geräusch der Schuhe, die gegen das Boot schlugen, hörte ich ihn sagen: Lass mich gehen, ich will ihm die Hand geben. Eine große Welle voller Wasser und Schuhe kenterte das Boot und alles wurde schwarz und salzig.

Mein Vater erzählte mir, dass, als sie mich am Strand fanden, neben Fiorellos Boot liegend, ich ein schönes Paar Gummistiefel an meinen Füßen hatte, die von wer weiß woher kamen. Vielleicht von einem chinesischen Schiff, das seine Ladung auf See verloren hatte, auch wenn es ihm unwahrscheinlich erschien. Er entschuldigte sich bei mir und fing an zu weinen. Um ihn zu trösten, erzählte ich ihm von Ennio und da schauten alle zum Meer hin, das wieder hellblau und ruhig geworden war. Die Finger Gottes waren verschwunden und seine Hand hatte nicht mehr den Anblick einer Faust, die sich bald schließt.

Wir kehrten nach Hause zurück und folgten der Straße, die entlang des Tagliamento verläuft und die mich mit ihren sanften Kurven eng umarmen zu wollen schien.