Nach dem Glück
Loredana MonteLoredana Monte
Loredana Monte (1980) wurde als Tochter von italienischen Einwanderern im Kanton Zürich geboren und ist schweizerisch-italienische Doppelbürgerin. Sie studierte Geographie und Kulturanthropologie an der Universität Bern und Gender Studies an der Universität Kapstadt, Südafrika. Nach rund sechs Jahren Leben, Studium und Arbeit in Südafrika und Italien zog sie 2014 wieder permanent in die Schweiz. Ihre vielseitigen beruflichen Stationen als Sozialforscherin, im Migrationsbereich sowie im Umwelt- und Tierschutz inspirierten sie zum Schreiben. Seit Juli 2019 absolviert sie das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur (Fischerhude, Deutschland). Ende Jahr erscheint in der Anthologie Zeitgeist 2020 von Litopian die Kurzgeschichte Die Ministerin der Einsamkeit. Loredana Monte arbeitet aktuell an einem Kurzgeschichtenband sowie an einem Roman.
ErzÄhlung
An einem Waldrand in der Nähe von Dietikon, Kanton Zürich, circa 1970. Fünf Automobile stehen auf einer Wiese im Kreis, die Türen weit geöffnet, einladende Polstersessel. In der Mitte des Kreises tanzen fünf Paare, vielleicht zwanzig Jahre alt. Sie blicken direkt in meine Augen. Als wollten sie mich auffordern mitzutanzen, zur Musik der Autoradios, die ich nicht höre. Die Haarlocken in der Bewegung eingefroren, dunkle Augen, volle Brüste, ein Paar Bärte, ein Schnauzer.
Dutzende, vielleicht hunderte Male habe ich die vergilbte Fotografie betrachtet, studiert, analysiert. Wie besessen. Als Kind, als Jugendliche, dann als Erwachsene. Die von der Sonne erleuchteten Gesichter, die schönen Körper, die strahlenden Blicke, die Glückseligkeit, die aus ihnen quoll. Eines dieser Paare waren meine Eltern, sind meine Eltern. Ich will verstehen, weshalb sie so glücklich waren, damals, als alles schwieriger war. Und heute, wo ist das Glück hingewandert, ausgewandert?
In einem Zug der SBB, irgendwo zwischen St. Gallen und Genf, 2015. Restaurantwagen in der Zugsmitte, eine Geschäftsreise mit Bergkulisse. Wir sitzen um einen runden Tisch und trinken Tee und Kaffee. Die schneeweisse Tischdecke will uns mit jeder Berührung entgleiten. Der Somalier redet über das Unglück im Glück. Jetzt, wo er alles erreicht hat, was nicht einmal seine Mutter für ihn zu träumen wagte. Ein sicheres Leben. Ein angesehener Beruf. Ein fester Arbeitsvertrag. Ein überdurchschnittlicher Lohn, auch für Schweizer Verhältnisse. Er ernährt damit seine Familie, die gesamte Verwandtschaft, ein kleines Dorf. Zuhause. Dort, wo er nicht mehr hingehört, wo man ihn nur noch als bewegtes Bild kennt. Das Leben in der Schweiz sei hart, meint er. Nicht finanziell, nicht physisch, er kann es nicht erklären, es geht im schlecht. Er will dankbar sein für alles, was er bekommen, erreicht hat. Doch was kommt danach, fragt er mich, nach alledem. Nach der Arbeit, nach dem Geld, nach dem Glück? Er fühlt sich schuldig. Die Leere ist erdrückend. Ich schlucke.
Die Schilder an den Türen der Restaurants und Diskotheken, damals in den Siebzigerjahren. Ich kriege sie nicht aus meinem Kopf, auch wenn ich sie nie gesehen habe. «Hunde und Italiener verboten». Wieso Hunde?, war meine Frage als Kind. Wieso Hunde und Italiener? Wollten die Hunde auch ins Restaurant? Tanzen gehen? So war die Schweiz, damals, die Erklärung meiner Eltern. Wir durften da nicht rein, man wollte uns nicht. Aber die Hunde? Wieso die Hunde? Meine Eltern hatten einen Hund, bevor ich zur Welt kam. War auch er auf der Wiese am Waldrand, als sie tanzten? Dort, wo sie tanzen durften, weil es keine Schilder gab?
Ist es die Einsamkeit, die ihn umtreibt, frage ich. Einsamkeit ist ein Privileg der Reichen, sagt er. Für Afrikaner gibt es keine Einsamkeit. Ich weiss, dass das nicht stimmt und nicke. Jeden Morgen holt ihn der gläserne Klingelton eines Weckers zurück ins Leben. Ich sehe seine Einzimmerwohnung vor mir. Graue Teppiche, schwarzes Mobiliar, ein weisser Hochglanztisch neben der aufklappbaren Kochnische, eine Musikanlage, ein grosser Flachbildfernseher mit DVD-Gerät. Die männliche Silhouette einer blauen Parfümflasche auf einem Bücherregal. Davor, zwei Hanteln. Weshalb nur ein Zimmer, wundere ich mich. Dann antworte ich, wozu, mehr.
Was wollten wir mehr, damals? Man brauchte uns, doch wollte uns nicht. Leise mussten wir sein, das Glück suchen, wo sie nicht hinschauten. Wir blieben, bis man uns nicht mehr brauchte. Bis man uns wollte, mochte, suchte. Wenn die Zeit alle Wunden heilt, was tut sie mit den Messern, die sie schnitten? Wohin sind sie gewandert? Wer hat ihre Klingen stumpf gewaschen, die Worte verschluckt. Die Plakate, die Schilder vor den Restaurants und Diskotheken. Und die Hunde? Vergilbt mit der Fotografie eines tanzenden Nachmittags am Waldrand.
Gott hat mir alles gegeben, was sich ein Mensch wünschen darf, sagt er. Jetzt muss er sich um jene kümmern, die ihn brauchen. Zuhause, in den Camps, unter den Füssen der Folterer, auf den Booten im Meer, in den Peripherien der Städte und Länder, die sie nicht wollen. Hilft Gott nicht allen, frage ich mich und schweige.
Die Täter heilen nicht. Nur die Wunden. Das Leben will leben, lachen, aus den Tiefen seiner dunklen Augen und tanzen, zur Musik der Autoradios. Das Leben will überleben, weiterleben, Kinder gebären. In den Camps, auf den Booten, unter Wasser. Manchmal leben sie, manchmal lachen sie. Und dann, nach dem Glück, was kommt dann.