Settima edizione 2013 • terzo classificato sezione inediti

Ein Maulwurf bin ich

Hanna Battisti

Hanna Battisti

Geboren in Kaltern, 1961, wohnhaft in Eppan. Freiberufliche Kunsttherapeutin, Psychologin und Künstlerin. Doktorat in Erziehungswissenschaften in Innsbruck, Diplom als Gruppenleiterin am Ruth Cohn Institut Schweiz, Spezialisierung in Arteterapia, Mailand. Weiterbildungen in künstlerischer Fotografie.
Berufliche Erfahrungen:
- Redaktionsleitung der Zeitschrift des Landesverbandes Lebenshilfe Südtirol „Perspektive” (1985 -1995)
- Unterricht in Psychologie und Pädagogik in der Fachschule für Sozialberufe „Hannah Arendt” in Bozen (1991 – 2011)
- Leitung des Kunsttherapeutischen Ateliers in Kaltern (seit 2011) Publikationen:
- Herbst der Frauen. Fotografische Begegnungen, Folio 2006
- Winterkollektion. Fundstücke für einen Sterbenden. Prokopp & Hechensteiner, 2010
- Menschen stärken. Wege sichern. Hrsg. Caritas Bozen, 2012
Ausstellungenseit1995, zuletzt:
- 2011 Über die Jahre, Bern (CH);
- 2012 Minimum, Innsbruck (A);
- 2012 One Night III, Franzensfeste (I)
- 2013 Peccatum mortiferum, Eisenstadt (A)
www.hannabattisti.com

BegrÜndung der Jury

Salvatore sagt von sich ein Maulwurf bin ich, und: der Maulwurf ist ein erstaunliches Tier. Er lebt ausschließlich unter Tage in weit verzweigten, selbst geschaufelten Gangsystemen. Und dieses Verzweigte trifft auch auf das Kompositionsprinzip des Textes zu. Auf wenigen Seiten wird ein ganzes Leben erzählt. Es geht um nicht weniger als die Liebe und den Tod. Weit auseinanderliegende Situationen werden verknüpft, gekonnt werden Themen wiederholt und variiert, es werden unterschiedliche Motive aufeinander bezogen und gegeneinander geschnitten. Der Text ist auf eine beeindruckende Weise zugleich konkret und geheimnisvoll, er ist eindringlich in seiner Körperlichkeit und doch ein Rätsel.

IL RACCONTO

Die Stadt ist in Lindenblütenduft getränkt, Carduccistraße, Domplatz. Zwischen den Pflastersteinen hat sich klebriger Staub eingestreut und die Windschutzscheiben der parkenden Autos gelb gefärbt.  Er hat eine Wunde am Kopf. Getrocknetes Blut klebt an den Haaren. Die Hände zittern leicht.

Ich, unverwüstlich, sagt Salvatore, das Auto Totalschaden.

Als ich ihn kennenlernte, Jahre zuvor, war alles anders gewesen. Ich sah ihn inmitten von lauten Menschen, den Stiel eines Rotweinglases zwischen Zeigefinger und Daumen rollend. Mit der anderen Hand strich er sein halblanges Haar hinters Ohr. Wie einen schmalen Steg pflegte er den Bartwuchs von den Ohren bis zum Kinn. Ein breites Lächeln schickte er mir quer durch das Lokal herüber. Seine Augen hell und klug. Nach sieben Jahren sei er nun aus Afrika zurückgekehrt. Komm, lass dir erzählen. Das Bild von byzantinischen Seefahrern, von beladenen Handelsschiffen entstand vor mir, Oliven und Wein, gefüllt in großen Amphoren. Ferne Länder. Eine helle Mondsichel schwamm in die gefräßige Sonne hinein.

Deine Augen, flüsterte Salvatore, haben die Farbe des Meeres, kurz bevor der Sturm losbricht.

Von draußen dringt Licht durch die Fensterreihen. Die roten Plastikstühle sind am Boden festgeschraubt. Ein Pfleger drückt Salvatore sanft auf die Liege. Der lange Gang setzt sich hinter der Glastür fort.

Ein Glühwürmchen fliegt an die Fensterscheibe, dahinter eine Zypresse und dunkle Bergränder. Unscharf verschwimmt die Landschaft mit dem Innenraum.

Ich gehe in das Meer hinein, hinter meinen geschlossenen Augenlidern kann ich es sehen. Zu den Fischen gehe ich, langsam und sanft  gleite ich mit ihnen über den Meeresgrund. Schon wachsen mir Schwimmhäute zwischen den Fingern.

Die Krankenhausuhr zeigt zwanzig Uhr dreißig.

Die Frauen, bewachen eifersüchtig meine Wörter, kontrollieren Schritte und Abgründe, werfen Spotlichter auf das Düstere. Mein Leben ist ein wirres Wurzelgeflecht und von allen Seiten lassen sich Geschichten herausziehen.
Ihre Gedanken hingen um ihn herum wie dichter Nebel.
Du bist karg und spröde wie eine Hochalpinlandschaft. Den Geist nach innen gestülpt.Mit dreiunddreißig kennst du nur deine Berge.
In ihre ordentlich gefaltete Welt brach der Sommer ein.
Mein Nein heißt in Wirklichkeit ja, ja, ja. Atemlos schrieb sie es ihren vorauseilenden Gefühlen hinterher, ohne Syntax. Quietschend drehte sie sich im Kreis, umarmte Schrank und Stuhl. Winzig klein war sie geworden, ein Kind.

Er wohnte an den Schattenhängen des Berges, sie in sonniger Anhöhe. Er brauchte die Sonne nicht.
Die Wörter verformten sich in ihrem Mund zu falschen Klängen. Kehlkopf und Gaumen gehorchten ihr nicht. Es tat weh. Die Zunge im Schnee der Gletscher festgefroren. Wie mit einem Kind, das Silben verwechselt, lächelte er.

Du wirst staunen. Seine Versprechungen umspannten ihren Körper wie eine flaumige Schale. Die Menschen ihrer Welt reden in knappen Sätzen. Die Tonhöhe entscheidet. Eine winzige Bewegung des Kopfes. Wiederholungen, keine. Überflüssiges, nie.

Seine Rede nahm Anläufe wie auf dem Zehnmeterbrett, federte leichtfüßig ab, drehte die Rolle rückwärts und bekam unterwegs Flügel.
In allen Dingen lag Überschwang, – brava – er streichelte ihr Haar, – dolce – überschüttete sie mit Verniedlichungen, bis sie im Singsang seiner Wörter völlig besänftigt war. - Alles wird gut, du wirst sehen, vedrai.

Düster war sein Haus, die Fenster verhangen. Ein Sims von Totenköpfen aus Gips zierte die Wand oberhalb der Eingangstür. Eine grün bestrahlte Mauernische barg einen Altar voller Steinstücke. Geschichten flossen leuchtend aus seinem Mund, Abenteuer, als hätte er selbst in Palästen gewohnt, wäre in Kriege gezogen, über Meere gesegelt. Im Aquarium schwammen Fische, Gräser und Algen klebten an den Glaswänden. Niemand konnte sich der Magie der Wassertiere entziehen und die Gespräche der Abendgäste rankten sich um die Aquariumsbewohner, zogen hinaus ins offene Meer, zu guten Tauchgängen, Unterwasserlandschaften, unentdeckten Schätzen, aufregenden Frauen, gutem Sex und kehrten immer zu den Fischen zurück.

Der neptunsche Nebel machte sie schwerelos und taub. Nicht unangenehm. Zweifel und Sorge um ihn verschwanden.

Nachts tauchte Salvatore in seine Werkstatt ab, il laboratorio. Er liebte die Dunkelheit, das Düstere.
- Sono una talpa, sai, ein Maulwurf bin ich.

In seinem Kopf blühten Ideen, schwammen silberverlötete Kupferplättchen in säurehaltigen Flüssigkeiten, dampften erwärmte Zinkspiralen, wanden sich elektronische Widerstände auf imaginierten Schalttafeln.
In seinem Haus dümpelten Essensreste und schmutziges Geschirr zwischen Elektromüll, blinkenden Messlatten, Steuergeräten und Kontrollapparaten. Es roch nach Säuren und verbranntem PVC. Es roch nach Schimmel.

Ich halte das nicht aus, sagte sie. Geben wir dem, was ist einen Namen. Nennen wir es Freundschaft? Nennen wir es Liebe? Die lange Zeit, ohne dich zu sehen, ohne von dir zu wissen. - Non fare capricci. Ein schmerzverursachendes Konstrukt ist die Zeit. In fondo, i sentimenti non si lasciano categorizzare. Wir wollen unsere Gefühle nicht in Pakete verschnüren.

Ti porto fuori, sagte Salvatore, doch du kleidest dich ein wenig zu brav, cara. Die Frauen zeigen ihren Körper gern. Komm, ragazza alpina, sei nicht prüde. Sein Mund verzog sich zu einer Fratze, das H presste er stumm hervor, die Arme schwangen vor und zurück.

Gebannt schaute sie seinen Händen zu. Wie bizarre Flüge von Riesenvögel flatterten sie durch die Luft. Wann würden sie Nistplätze aufsuchen?

Sie sprach von den Kindern, die sie haben würden. Zwei oder gar drei.
Er würde keine Kinder haben, sagte er nach dem Schweigen, das entstanden war.
Schlag dir das aus dem Kopf.

Lieber mal eine Katze. 

Du weißt, der Maulwurf ist ein erstaunliches Tier. Er lebt ausschließlich unter Tage in weit verzweigten, selbst geschaufelten Gangsystemen, winterschlaflos. Er lebt im Ural und im Kaukasus, sogar am Baikalsee.
Er entwirrte einen Knäuel von Erinnerungen an ungehörte Orte, ließ Basare lebendig werden, Frauen in hellen Gewändern, Nomadenzelte, Schmuckgehänge, Kamele und sternenbestreute Himmel.

Salvatore lehnt sein Gesicht an das Kuscheltier. Lange hatte sie gesucht, um einen Maulwurf zu finden. Nun ist er zottelig geworden, ein Glasauge hängt am Faden herab. Wie ist er zugerichtet.
Jemand hat unsanft die Neonbeleuchtung angemacht. Eine schweißbedeckte Stirn wendet sich ab, eine Hand greift nach dem Skalpell, blutrot färbt sich Haut und Fleisch, etwas rhythmisch Pulsierendes kommt zum Vorschein. Benommen schalte ich das Fernsehgerät aus.

Mit einem scharfen Messer öffnete Salvatore den Rumpf des Fisches, zerschnitt die Gedärme, das Herz, die Leber und die Niere, trennte Blutgefäße vom Bauchraum. Dann füllte er das Fleisch mit Fischsud, Karotten, Sellerie, Weißwein.
Du kennst mich nicht wirklich, cara. Ahh, er rollte die Augen, riss den Mund weit auf, fletschte die Zähne wie ein Rottweiler, gab Zisch- und Grolllaute von sich. Im nächsten Moment sprang er auf einen Stuhl, krallte mit den Fingernägeln Löcher in die Luft. Er lachte und lachte.

Die Garnelen schnitt er der Länge nach entzwei, fügte eine Marinade aus Olivenöl, Knoblauch und Kapern hinzu.

Sie wollte nichts vom Zittern seiner Hände erzählen. Nichts vom Wein. Nachts habe er sich im Traum von Zimmer zu Zimmer geflüchtet, atemlos Türen hinter sich versperrt, mit großer Mühe Möbel verschoben. Daraufhin seien die Wände durchsichtig geworden.

Ti porto fuori, sagte Salvatore.
Die Schatten in den Bergen fielen immer zu früh. Die sonntäglich bestiegenen Berge, eine Aneinanderreihung von Gipfeltouren, Gehminuten, Höhenmeter, Steilgrade, Routen. Ma che diavolo fate lassú? Was zum Teufel macht ihr dort oben? 

Im Dezember besuchte sie ihn - es war seltsam ruhig. Keine Essensdämpfe, keine Musik. Die Luft roch muffig. - Da bin ich, rief sie zweimal. Dreimal.
Er saß in einer Sofaecke im Halbdunkel nach vorne gebeugt, unbeweglich. In den Handflächen wie ein aufgeschlagenes Buch einen toten Aquariumsfisch. Die Schultern zuckten. Dieses Bild hat sich in ihren Kopf eingehämmert.
Ich, sagte Salvatore, eine Katastrophe. Was ich anfasse, misslingt.
Er sei in der vergangenen Woche im Laboratorio gewesen. Geforscht habe er und gebastelt. Schaltkreise geätzt und Widerstände gelötet.
Die Augen lassen nach und die Hände zittern. Die Schaltpläne enthalten schwere Fehler, sie wären mir früher nie passiert.
Mit einer Geste der Verzweiflung wies er in Richtung Aquarium. Im trüben Wasser lag grüngrauer Algenschlamm an der Oberfläche und Binsengräser schossen buschig nach oben. Der Motor am Wasserschlauch gab ein seltsames Geräusch von sich, es pfiff gefährlich durch den Filter. Einige Fische schwammen mühsam durch die Brühe, andere schaukelten leblos auf der Wasseroberfläche.

Sei unbesorgt, cara, der Wein lässt meine Sinne wach werden und unsäglich weit.

Die Möglichkeit des Todes habe ich nie wirklich in Betracht gezogen, sagte Salvatore. Dabei bin ich  mehrmals dem Tod entronnen. Minen. Malaria. Der Autounfall. Nachts bin ich über den Straßenrand gefahren und heftig blutend liegengeblieben. Bis zum nächsten Morgen.

Ein paar Gläser Rotwein nur, bis Ideen aufflammen und mich überfluten. Ganz weich dehne ich meine Körpergrenzen bis zu dir hin.
Der Blick heftete sich an den Faden einer Spinne, die von der Zimmerdecke federte. 
Ich bin müde. Mit meinen fünfzig mindestens neunzig Jahre müde.
Zu Hause, sagte er, halte ich es nicht aus. Es gibt nichts zu tun. Dieses Land versinkt im Smog eines unverdienten Wohlstands. Die Menschen steigen auf Berge und sehen dahinter nur Berge. Sie wissen nichts von Una, die mit ihren Füßen jeden Zentimeter ihres verminten Gartens abtastet, um ihre Kinder zu schützen. Sie wissen nichts von Kindern, die nicht spielen.
Seine glühende Anklage richtete er gegen sie, stellvertretend für alle, die es nicht wissen können. Salvatore verbarg sein Gesicht mit beiden Händen.
Dein Land, deine Berge, ich will hier weg. Mein nächster Einsatzdienst wartet schon.

Die Katze Me rollte sich samten auf Salvatores Schoß. Pass auf sie auf, wenn ich weg bin.
Me wohnt nun bei mir. Unverschämt springt sie auf den Tisch, steckt ihre feuchte Nase in meinen Teller.
Gib mir mal Me, sagte er, und ich legte das Handy neben die Katze. - Liebste Me, cara, du fühlst dich einsam. Und ich bin so weit weg.
Miao.
Mein nächster Einsatz ist der Wiederaufbau nach dem Krieg, hatte Salvatore gerufen, als er ihr entgegenlief, zwei Stufen auf einmal nehmend. Den lange ersehnten Brief schwenkte er über dem Kopf.
Salvatore saß im Flugzeug zehntausend Meter über den Alpen.

Me zerrt an der Gardine. Me wühlt in der Blumenerde des Gummibaums. Me knabbert an den Blüten des Weihnachtssterns. Me hebt ein Bein und pinkelt gegen die Küchentheke.
Me zischt und fährt ihre Krallen aus.
Miao.
Es gibt nichts zu tun. Es gibt nichts zu hoffen.
Wie aus einem reißenden Strom habe ich mich atemlos ans Ufer gerettet.

Jemand hat die Zeit angehalten. Die Welt ist abgestreift wie ein Kleid. Unter einer Schutzglocke habe ich mein Leben eingerichtet, sagt Salvatore. Er schreibt alles auf, präzise. Die Grade der Fiebertabelle, die Zuckerwerte, die  Menge und Farbe des Urins, den Blutdruck und alle einzelnen Blut- und Harnwerte. Er notiert Rezepte und Speisen, die besondere Diät, die Mengen, die Tabletten morgens, mittags und abends, die Infusionen in Milliliter.
Eine skurrile Ruhe ist eingekehrt. Flüssigkeiten tropfen von Beuteln in die Adern hinein. Fast lautlos ist das Atmen. Schläuche lugen unter der Bettdecke hervor. Türme von Tablettenschachteln sammeln sich auf dem Fensterbrett, zerbeulte Noppen.

Es ist drei Uhr nachts.
Salvatore ist sich im eigenen Körper verloren gegangen.

Meinen Blick wende ich zurück, quer durch den Raum, wie auf das offene Meer.
Der Sturm hat sich gelegt.