Settima edizione 2013 • vincitore sezione editi

Sarajevo

Marco Pontoni

Marco Pontoni

Henry J. Ginsberg ist das Pseudonym, unter dem Marco Pontoni „Sarajevo” sowie die anderen Erzählungen im Band „Vengo via con te” (Valentina Trentini, 2012), zum Teil auch auf dem Blog Tempi & Modi veröffentlicht, geschrieben hat. Er ist 1965 in Bozen geboren und hat an der Universität Bologna Politikwissenschaften studiert. Der Journalist hat den Roman „Music Box" (Curcu & Genovese, 2006) und, zusammen mit dem Fotografen Massimo Zarucco, das Buch „Mozambico, l'orgoglio di un popolo” (Valentina Trentini, 2005) sowie Erzählungen und Artikel in zahlreichen Zeitschriften, u.a. den Kurzroman „Avventura meravigliosa di Tory Hans” veröffentlicht. Sein (noch unveröffentlichter) Roman „Macchine fluide” hat es in die Endauswahl des Literaturpreises Premio Calvino geschafft. Der Autor ist Mitglied der Redaktion des Jahrbuchs für vergleichende Literatur „Comunicare–letterature, lingue” (Itc-Il Mulino) und Autor von Videos und Reportagen über Afrika, Asien und Lateinamerika.

BegrÜndung der Jury

In der Stadt, die am Ende des voriges Jahrhunderts bedauerlicherweise zum Symbol für Krieg in Europa geworden ist, entfaltet sich eine nüchterne, angespannte, endgültige Erzählung. Seit Jahren wird in Sarajevo nicht mehr geschossen, aber eine Journalistin macht sich trotzdem auf die Suche nach Geschichten, die es zu erzählen gilt. In einem Andeutungsspiel mit Spiegelbildern und Labyrinthen wird auch von ihrer Begegnung mit dem Mann erzählt, der ihr als Führer dient, der ihr die verwundete Stadt und ihre Einwohner – oder zumindest diejenigen, die noch dort geblieben sind – zeigt. Kollektive Geschichte und private Gefühle, Angst und Vertrauen, Neugier und Verlangen, Hass und Liebe durchziehen diese gekonnt in der Schwebe gehaltene Erzählung. Und schenken dabei Unsicherheiten und Erwartungen dank einem Schreibstil, der den Leser begleitet ohne ihn weder anzugreifen noch ihm zu schmeicheln versucht.

IL RACCONTO

Es ist ein Gebäude mit fünfzehn Stockwerken, abgebrannt, genauso stehengeblieben. Das geschwärzte Skelett eines Gebäudes. Eine Frage des Vertrauens, hier zu sein. Seit einiger Zeit denke ich, dass man, wenn man die wichtigen Dinge gut machen will, jemandem vertrauen muss, man muss an Worte, Gesten glauben, man kann nicht immer in der Defensive bleiben.
Und auch wenn du es nicht willst, wenn du die Sache rational betrachtet hast, kommt der Moment, an dem du dich mit dem Rücken zur Wand wiederfindest, und was tust du dann? Wirst du um dich schlagen und dich entwinden, flüchten? Oder wirst du dich gehen lassen, im Vertrauen, dass die Mauer oder jemand anderes, wer auch immer, dich stützen wird?

Wir biegen um die Ecke, Hasan vor mir, ich hinter seinem breiten Rücken. Es gibt einen Innenhof, über den gerade der Abend hereinbricht. Ein paar geparkte Autos, vielleicht stehen sie schon seit Monaten dort. Wir steigen einige Stufen hinab. Wir klopfen an ein verrostetes Türchen. Und drinnen... surprise! Eine warme Atmosphäre trifft mich völlig unversehens und verschlägt mir die Sprache, ungefähr zehn Männer und Frauen, alle alt, alle mit weißem Haar, die auf mich warteten, geduldig, um einen Tisch mit einer beschichteten Platte sitzend, sie haben zur Feier des Tages einen Pandoro* aufgeschnitten, wir sind im Februar, er muss wohl übriggeblieben sein.
„Willkommen.“
Der Präsident des Vereins ist der erste, der aufsteht, er läuft mir entgegen, in Jacke und Krawatte, er gibt mir die Hand, schüttelt sie energisch. Seine Frau, eine weißhaarige, winzige Frau, reicht einen Plastikbecher mit irgendetwas drin. Ein anderer macht währenddessen Fotos.
„Verzeihung: für welche Zeitung schreiben Sie nochmal?“

Der Bericht ist nichts besonderes, der Krieg ist seit zu vielen Jahren vorbei, falls jemand ihn mir veröffentlicht, wird es wohl unentgeltlich sein, auch wenn ein Jahrestag miteinbezogen ist. Niemand schert sich mehr so sehr um Sarajevo.
„Welchen Eindruck hat unsere Stadt bei Ihnen hinterlassen?“
Was kann ich sagen. Was möchte ich sagen. Eine der schönsten Europas. In der historischen Altstadt gibt es viele Gebetsstätten, muslimische, christliche, auch eine jüdische, wenige hundert Meter voneinander entfernt. Man beginnt bei der Ali Pasha-Moschee, am Anfang der Maršala Tita, und nach wenigen Schritten befindet man sich in einem habsburgischen Märchen, dieser Art von Gebäuden in Mitteleuropa, man könnte meinen, Prinzessin Sissi zu treffen, an einem sonnigen Tag. Unmittelbar danach wird die Skyline tiefer, die edlen Gebäude weichen den kleinen Häuschen der Baščaršija, der türkischen Stadt, mit dem Bazar, der großen Moschee, und am Ende der Platz mit dem Sebilj Brunnen, und noch weiter unten das, was von der Bibliothek übrig geblieben ist. Am anderen Flussufer die Synagoge des alten Tempels.
Wie in Istanbul, aber auf engerem Raum. Versteckt zwischen den Furchen der Berge. Zu eigenartig, um dem Schicksal eines Massakers zu entgehen.

Mein Führer hat mich hierhin gebracht, um mir zu zeigen, was von dem Verein der Italiener übrigbleibt. Er wurde mir von einer Freundin empfohlen, ich bin Hasan gefolgt, wir sind mit seinem Auto vom Hotel aus gefahren, der Scheibenwischer quietschte gegen die Scheibe, er redete, er ist ein fröhlicher Mensch.
Einige Familien sind seit Generationen in Bosnien; sie kommen aus dem Trentino, aus Venetien, aus der Lombardei, aus dem Friaul, sie sind zur Zeit des Königreichs ausgewandert, um die Eisenbahnlinien zu bauen oder wegen des Landes, das es zu besiedeln galt; die alten Königreiche waren auch eine gewaltige Vermischung von Völkern. Diese uralten, überschwänglichen, sentimentalen Frauen haben alles gesehen: den zweiten Weltkrieg, den Kommunismus, das Ende Jugoslawiens, die Belagerung. Sie wurden schon mehrere Male interviewt, danach wurden sie irgendwann wieder vergessen; deshalb sind sie jetzt so froh, reden zu dürfen. Sie sprechen italienisch, das, was sie von der italienischen Sprache noch kennen, falls nötig übersetzt Hasan. Sie möchten über das Sarajevo von früher reden, das es nicht mehr gibt. Aber man kommt immer wieder auf jene Wunde zu sprechen.
„Es war uns nur ein aktiver Brunnen geblieben in der Stadt, deshalb musste man bis dorthin zu Fuß laufen, um Wasser zu holen. Sie hatten ihn absichtlich dort gelassen, damit die Scharfschützen sich austoben konnten. Jedesmal, wenn mein Sohn sich mit den Kanistern auf den Weg machte, verabschiedeten wir uns, als sei es das letzte Mal.“
„Und wo ist Ihr Sohn jetzt?“
„Er ist in Italien, in Turin. Er ist sofort nach dem Krieg weggezogen. Er hat zwei Töchter, sie sind mittlerweile groß. Möchten Sie noch ein Stück Pandoro?“
Durch die kleine Tür zum Innenhof kommen andere Menschen herein. Sie sind alle über sechzig, die Hände mit Altersflecken übersät, einige mit einem italienischen Abzeichen an die Brust geheftet, mit der Nationalflagge und einem Schriftzug darunter. Mein Besuch ist der Anlass gewesen, den Verein wieder zu eröffnen, Hasan hatte mir erklärt, dass sie nun nicht mehr hierherkommen, sie sind halb illegal, das Gebäude wurde für unbewohnbar erklärt, aber sie haben sich nie die Mühe gemacht, es abzureißen, oder vielleicht gibt es dahinter eine Spekulation, in Sarajevo ist das Thema Wohneigentum ein dorniges Problem. Die Häuser, die von Menschen auf der Flucht verlassen wurden, sind von den Vertriebenen besetzt, die nach dem Dayton-Abkommen, welches das Land spaltete, in großen Scharen aus den umliegenden Dörfern in die Stadt geströmt sind. Juristisch gesehen heißt das, dass eventuell wieder auftauchende rechtmäßige Eigentümer verlangen könnten, wieder in den Besitz ihrer eigenen vier Wände zu kommen. Und wer sich in der Zwischenzeit hier eigerichtet hat, müsste gehen.
Auf jeden Fall gibt es keine Jugendlichen, niemand hat bleiben wollen, auch wenn es jetzt Banken und Cafés und Kinos gibt und man am Fluss entlang schön spazieren kann.
Jemand entkorkt eine Flasche Sekt. Ich rede mit allen, mache mir Notizen, am Ende beachten sie mich nicht mehr, und auch nicht Hasan, den sie eine Weile stumm beäugt hatten. Ich mache ein paar Fotos, sie singen: „Quando saremo fòra, fòra dela Valsugana...“**.
Ich spüre meine Augen feucht werden, etwas im Hals kratzen. Ich entschuldige mich. Ich muss raus.

Jetzt sind wir im Freien. Die Dämmerung weicht allmählich der Nacht. Einige Schneeflocken wirbeln hier und da. Und bleiben nicht liegen.
„Alles gut?“
Ich nicke bejahend, ich muss ihm wohl schwach vorgekommen sein.
„Das ist die Vergangenheit“, bemerkt er, „Du solltest kommen, wenn das Filmfestival stattfindet. Sarajevo ist jetzt eine andere Stadt.“
Ich drehe mich zum Haus um. „Und der Rest ist alles leer?“
„Ja, ich glaube ja. Es gibt eine Kooperative, im ersten Stock. Interessiert dich das?“
„Was machen sie?“
„Es ist eine Frauenkooperative. Sie machen Tischdecken, Puppen, sie nähen...“
„Warum schüttelst Du den Kopf?“
„Nein, nichts. Ich dachte, dass...“
„Was?“
„Nichts. Lass uns nachschauen, ob jemand da ist.“

Wir steigen die Stufen hinauf. Das Tor ist zwar zugedrückt, aber nicht mit dem Schlüssel abgeschlossen, man braucht praktisch nur dagegen zu drücken. Hasan zieht eine Taschenlampe aus seiner Tasche, knipst sie an. Der Lichtstrahl erhellt eine in eine Ecke geworfene Decke, Schriften an den Wänden, Graffiti.
Wir gehen den Flur entlang bis zu einer Tür, auf der ein Schild mit der Inschrift „Suada Dilbèrovic“ angebracht ist. Hasan klopft, dann drückt er die Türklinke runter.
„Niemand“ – sagt er und breitet die Arme aus – „Diese Kooperative wird mit Hilfsgeldern der Europäischen Union aufrechterhalten. Suada Dilbèrovic war das erste Mädchen, das während der Belagerung der Stadt getötet wurde. Sie nahm an der Demo teil, als die Scharfschützen vom Holiday Inn aus zu schießen anfingen.“
Ich kannte ihre Geschichte. Ich fröstele vor Kälte und will noch nicht gehen, auch wenn der Ort etwas Grauenhaftes hat.
„Und hier drüber?“
„Es ist alles leer. Aber Du kannst von oben schöne Fotos machen.“
Hasan berührt mich am Arm. Er sieht aus wie ein Schauspieler. Er benimmt sich wie die Männer von hier. Es gibt Länder, wo alle schauspielern können, wo alle sich wie am Filmset bewegen.
Wir steigen weitere Stufen hinauf, er vor mir, er richtet das Licht auf die Füße, damit ich nicht stolpere. Wir haben uns heute Morgen in einem Café der Baščaršija getroffen; Giovanna, die ihn mir empfohlen hat, hatte mir gesagt, dass er Muslim ist, aber ich hatte sie nicht danach gefragt. Sie hat mir gesagt, dass er zwei Jahre in Italien gelebt hat. Dass er eine Verlobte hatte. Ich kann sein Alter schlecht schätzen, aber zur Zeit der Belagerung musste er noch ein Kind gewesen sein, mehr oder weniger.
Im fünften Stock nähere ich mich ihm instinktiv. Es gibt Geräusche, im Dunkeln, es könnten natürlich Mäuse sein. Ich werde mir bewusst, dass ich mich in einem verlassenen Gebäude mit einem Unbekannten befinde, dass niemand weiß, dass ich hier bin, außer den alten Leutchen des Vereins unten im Kellergeschoss. Seine Winterjacke riecht nach Regen.
Er führt mich zu einem Fensterrahmen. Die Lichter der Stadt, draußen, die Minarette, die Kathedralen, die Lichtmosaike auf den Fassaden der Gebäude. In der Tat, es ist ein großartiger Blick. Ideal, sollte jemand seine Augen gegen das Visier einer Waffe pressen wollen.

Hasan fragt nach meiner Kamera. Er drückt mir die Taschenlampe in die Hand, gibt mir Anweisung, den Lichtstrahl auf mein Gesicht zu richten, von unten nach oben. Dann knipst er ein, zwei Fotos von mir.
„Was hältst du davon?“
Ich schaue auf den Bildschirm. Ich sehe aus wie ein Gespenst. Auch ich sehe aus wie eine Schauspielerin, in einem Horrorfilm. Wir lachen.
„Ich habe einige Videos, falls sie dich interessieren. Mein Vater hatte sie aufgenommen.“
„Videos von…“
„Sicher, sicher. Auch er arbeitete als Führer für die Journalisten, so wie ich. Er hatte ein bisschen gelernt, die Kamera zu handhaben. Sie sind bei mir zu Hause, wenn du willst, zeige ich sie dir später.“
„Vielen Dank. Im Ernst… es würde mich freuen.“

Jede, jede Frau sollte in ihrem Leben einmal auf diese Weise geküsst werden, überraschend. Jede Frau sollte sich einmal an die Wand eines unbekannten, leeren Hauses lehnen, so bleiben, im Dunkeln, schutzlos. Erst wenn man die Schutzmechanismen fallen lässt, treten das Beste und das Schlechteste zu Tage, von einem selbst und den anderen.
Bart, der gegen meine Wange kratzt. Ich habe dabei Vertrauen.

Marco Pontoni Diese Erzählung wurde unter dem Pseudonym Henry J. Ginsberg im Band „Vengo via con te storie d'amore e latitudini“, Valentina Trentini edizioni, Trient 2012, veröffentlicht.

* typisches italienisches Weihnachtsgebäck
** Volkslied aus der Provinz Trient