Settima edizione 2013 • premio speciale Cassa Rurale

San Lorenzo

Simone Cassol

Simone Cassol

Ich heiße Simone Cassol, ich bin am 9. Mai 1979 in Feltre (Provinz Belluno) geboren. Feltre ist auch die Stadt, in der ich wohne, wo ich als Angestellter arbeite und wo ich studiert und 2003 mein Diplom in Sprachen und fremdsprachlicher Literatur erhalten habe. Wie für viele, ist auch für mich das Schreiben eine vorwiegend private Übung, genährt durch die Leidenschaft fürs Lesen und die studierten Autoren. Frontiere/Grenzen ist meine erste und einzige Erfahrung bei einem Erzählwettbewerb. Zum Thema Schreiben kann ich noch hinzufügen, dass ich für verschiedene Jahre freier Mitarbeiter bei einer Tageszeitung in Belluno gewesen bin und aktuell mit der Zeitschrift La Theka zusammenarbeite, die 2009 zusammen mit einigen Freunden in Fonzaso gegründet wurde und sich kulturellen Themen unter Einbeziehung der Bürger widmet.

BegrÜndung der Jury

Eine ausgeglichene und zarte Reise zurück in die Zeit, in einer Erzählung, in der die Erinnerung an die Fußballspiele mit Freunden, von Maradona träumend, und der Ausflug in der Nacht der Sternschnuppen mit dem Mädchen, dem der Hauptdarsteller etwas Wichtiges sagen möchte – ohne es jedoch zu schaffen –, verflechten sich und bieten uns ein gestochen scharfes, respektvolles, nostalgisches Bild der verflossenen Jugend. Und der Kontrast – wiedergegeben durch einen zeitlichen Sprung, der sich einem ebenmäßigen, reifen, evokatorischen und überzeugenden Schreibstil anvertraut – geht in Melancholie über, wenn der einst im Gras laufende Junge, heute Sportjournalist in den Vereinigten Staaten, an jene endlosen Tage seines mittlerweile entfernten italienischen Sommers zurückdenkt. Auf diese Weise verbindet sich der erfolgslose Versuch, die Zeit zum Stehen zu bringen, mit dem Bewusstsein darüber, wie sehr die Erinnerung, durch das Medium des geschriebenen Wortes, sich als rettend erweisen kann.

IL RACCONTO

Dieser Sprung ins Ungewisse ist Valeriano gewidmet

These are the days of the endless summer
(Van Morrison, „These are the days“)

Es waren die Tage des endlosen Sommers. Die Abende schienen nicht enden zu wollen. Und wir hielten uns stundenlang auf den Stufen der Piazza auf, der Blick suchte jenseits des Horizonts und fand nichts. Denn im Grunde kannten wir nur unseren kleinen Ort, in jeder Ecke und entlang jeder Gasse, aber allein der Versuch, sich vorzustellen, was sich jenseits jenes Feldstreifens befand, schien uns Heranwachsenden ein unmögliches Unterfangen. Nur Cristiano hatte die Schweiz gesehen, als er gemeinsam mit seinem Vater seine Tante in einem Ort im Kanton Aarau besucht hatte, an dessen Namen ich mich jetzt nicht erinnere. Ich erinnere mich aber an Aarau, weil ich diesen Klang oder etwas, das diesem Klang glich, als Kind in einem Science Fiction Film gehört hatte.
Innerlich dachte ich an den Moment, in dem jeder die eigene Abreise tatsächlich erleben und jene Grenze überschreiten würde, durch Begeisterung dazu angetrieben, das eigene Schicksal zu verfolgen, oder durch irgendeinen Strom weggedriftet. Du schautest mich aus irgendeiner Ferne an, und du warst schön so, still und verzaubert. Du schautest mich an, wie man ein schönes Gemälde in blauen Farbtönen betrachtet. Du warst nicht in mich verliebt, du hattest mich gern, weil ich dir eines Tages ein Buch geschenkt hatte, in dem es um eine Reise zu Fuß ging, um Amerika und darum, sich jeden Tag an einem anderen Ort zu verlieren.
Wir waren gerade fünfzehn Jahre alt, diese so unermessliche Geschichte entflammte sofort unsere Fantasie, und es gipfelte darin, dass wir allen flüchtigen Begeisterungen und Leidenschaften eines Augenblicks Treue schworen. In Wirklichkeit war keiner von uns schon reif für die Dinge des Lebens.
„Morgen machen wir eine Wasserballschlacht unten in der Gasse...“
„Vielleicht komme ich auch, aber ich habe Cristiano versprochen, zum alten Fußballplatz zu gehen, Fußball spielen.”
„Ach kommt schon… Fußball könnt ihr doch noch immer spielen, nicht?“
„Mal sehen... vielleicht kommen wir auch, ja.“
Strafstöße schießen mit Cristiano, auf dem alten Fußballplatz, das war eine Art privates Ritual, auf das ich nicht verzichten wollte. Im Sommer taten wir es fast jeden Tag, auch an den heißesten Nachmittagen mit einer Sonne, die einem stundenlang auf den Kopf schien. Mit dem Fahrrad rasten wir so schnell es ging durch die vergilbten Felder den Schotterweg runter, den Fußball eingequetscht im Dreieck des Fahrradrahmens, bis zu dem Feld, das Torpfosten aus Holz und keine Grenzlinien hatte. Das Gras war immer hoch. Zehnmal war ich mit dem Schießen dran, zehnmal er. Ich träumte davon, wie König Diego Armando Maradona zu spielen, weich und genau. Manchmal traf der Ball den Pfosten und ging dann ins Tor; ich könnte nicht sagen „ins Netz“, denn Netze gab es keine. In diesen Fällen feierte ich wie ein Champion: Ich rannte in Richtung der imaginären Tribüne, öffnete die Arme, hörte das Toben der Fans und empfing die Umarmung der Kameraden.
Aber es war nicht nur wegen dieser Beschäftigung, dass ich deiner Einladung ausgewichen war. Ich tat es oft, wenn es darum ging, mit der Gruppe zu spielen oder zum Bach zu gehen, um sich gemeinsam zu sonnen. Mit dir mochte ich es, zu zweit zu reden, über die Alltagsprobleme, die Träume von der Zukunft, auch wenn es Gedanken waren, die weder Hand noch Fuß hatten.
„Ich möchte einmal schreiben“, sagtest du mir, „vielleicht Journalistin werden, auf jeden Fall werde ich weggehen, ins Ausland...“
„Und wohin würdest du gehen?“
„Ich denke Paris... und du?“
„Keine Idee, manchmal frage ich mich das auch, aber ich sage mir immer, dass es noch zu früh ist... aber ja, mir gefällt der Gedanke, dass ich weit weg von hier sein werde, in einer Stadt voller Menschen, mit hohen Gebäuden, und Dinge tun werde, wie morgens den Bus nehmen, um zur Arbeit zu fahren.“
„Dieses Buch hat mir wirklich gut gefallen, danke... eine unglaubliche Geschichte. Mir gefällt die Stelle, an der steht ‚Ich werde langsam gehen und überall hinkommen‘.“
Dieser Satz klang gut, aber im Grunde gefiel mir das Laufen. Ich lief immer. Die Fahrradfahrten waren lange Endspurte, ich aß das Abendessen hastig, um so früh wie möglich mit den anderen auszugehen, und oft musste ich warten, weil noch niemand an die Piazzetta gekommen war. Dann schlug ich den Feldweg ein, wieder einmal rennend, und erreichte die letzte Baumreihe, hinter der die Staatstrasse entlangführte, und danach, wer weiß was. Es gab dort eine Scheune, es gab ein Mäuerchen, das mit nicht allzu großer Sorgfalt hochgezogen worden war und als Trennmauer zu irgendeinem ärmlichen Bauernhof diente. Und es gab einige Bienenkörbe, verblichen und leer, schon so lange, wie ich mich erinnern kann. In jener süßen Trostlosigkeit war es für mich schön, mich hinzusetzen und mit geschlossenen Augen über all das, was mir passierte, nachzudenken: Die Schule, die wieder anfing, ein Volleyschuss ins Lattendreieck, die letzte Zeile der letzten gelesenen Erzählung, meine leichten, nur angedeuteten Gesten für dich. Es war eine Pause von allem.
Ich könnte sagen, dass ich in diesen Augenblicken die Fülle meines Lebens spürte, keine Notwendigkeit anderer Wünsche verspürte. Es war ein Leben, das mir ausreichte, so, wie es danach nie mehr geschehen sollte.
Es kam die Nacht des Heiligen Laurentius, in der es Sternschnuppen regnet. Mit den Decken unter dem Arm gerollt gingen wir langsamen Schrittes; es war Vollmond, sein Licht erhellte die Felder. Wir alle gingen Sternschnuppen schauen, genau dorthin, zum alten Fußballplatz. Das Drehbuch sah vor, dass wir uns mit der Nase zum Himmel hinlegen würden, dabei Ausschau haltend nach einem magischen und glücksbringenden, plötzlichen Schwarm, der sich im Himmel, dunkel wie eine Schultafel, einzeichnen sollte.
Aber ich war nie besonders gut darin gewesen, meine Träume aufzuschreiben, und damals blieb ich mit nichts in der Hand zurück, ohne Blitze, die mir meine Zukunft enthüllt hätten. Ab und zu versuchte ich, dich mit dem Blick zu suchen, doch es gelang nie, deinen auf dem Rasen ausgestreckten Schatten zu finden. Dann lauschte ich. Ich hörte dich unbesorgt lachen, dich unterhalten mit lauter werdender Stimme, manchmal fast kreischend. Ich wartete auf den Augenblick, an dem ich dir ein Wort sagen würde, das leicht und funkelnd sein sollte, wie die, die wir in unseren Erzählungen gelesen hatten und in unsere Aufgabenhefte eingetragen hatten, damit du verstehen würdest, dass ich für dich großartig und glänzend würde sein können. Der Augenblick kam nicht. 
Ich sagte zu mir selbst „Was soll’s“ und sagte mir auch, dass ich an dieses Ritual und an die ganze romantische Schwärmerei nicht hätte glauben sollen. Ich überzeugte mich, dass man an ein Tag für Tag gezeichnetes Schicksal glauben sollte, getreu unserer Pflicht das, was uns zuteil wird, mit der höchsten Vernunft, der höchsten Gelassenheit zu akzeptieren. Langsam laufen und dabei jede Entfernung erreichen.
Aus diesem Grund kann ich auch sagen, dass jene Nacht auch ohne Sternschnuppen für mich erleuchtend gewesen ist.

Während der Aufzug die ersten Stockwerke erklimmt, beginne ich, mir die Handschuhe abzustreifen und die Winterjacke aufzuknöpfen, eilig, heimzukommen und mich endlich bäuchlings auf das Bett zu werfen. Der Tag ist hektisch gewesen. Es ist einer jener Tage gewesen, an denen man abends keine Zusammenfassung der Geschehnisse liefern könnte, die sich letztendlich überlappen, verwirren, ineinander übergehen. Auch ich fühle mich verwirrt. Im Vormittagsbriefing hat der Direktor die Stimme gehoben und eine Neuorganisation der Rollen angekündigt, falls sich im nächsten Halbjahr der negative Verkaufstrend fortsetzen sollte. Die Angelegenheit interessiert mich relativ wenig, weil wir vom Sportressort gut arbeiten. Außerdem hat Soccer endlich an Ansehen gewonnen: Es ist ein populärer Sport geworden, aber ohne die gereizte Atmosphäre, die man in unserem Land atmet, und das macht meine Arbeit leichter. In den Mannschaften der League sind nun verschiedene italienische Spieler aktiv, die sehr beliebt sind und wie echte Stars betrachtet werden. Mit vielen von ihnen bin ich sehr gut vertraut, weil ich mich als erster diskret zeige. Heute aber ging gar nichts, heute habe ich keine einzige Zeile geschrieben.
Vor der Mittagspause wurde ich von einer E-Mail von Cristiano überrascht. Seit über sieben Jahren hatte ich keine Nachricht mehr von ihm, seit dem Tag, an dem ich mich fast eilig von ihm verabschiedet hatte und für ein sechsmonatiges Stipendium weggefahren war. Danach hatten mich die Ereignisse überrollt, und bevor ich es bemerken konnte, lebte ich auf diesem neuen Planeten, wohnte ständig in jenem Traum, den ich als Jugendlicher geträumt hatte, der heute zum Alltag geworden ist. Cristiano hat mir geschrieben, dass es ihm einigermaßen gut geht, dass die Kinder wachsen, aber dass er ernsthafte Probleme auf der Arbeit hat, da in seiner Fabrik vorübergehend Entlassungen anstehen. Er hat auch geschrieben, dass ihm die Sorglosigkeit fehlt, die wir beim Kicken gegen einen Fußball erlebt hatten, und ich dachte beim Lesen dieser Worte an ihre Naivität. Es dauerte einen Augenblick, und schon spürte ich die Melancholie hochkommen; ich habe die ganze Müdigkeit gespürt, die mir auch in diesem Moment die Augen brennen lässt, und die Mühe, mit der ich morgen dem Wecker entgegentreten werde.
Einst hätte ich mich aufs Fahrrad geschwungen, wäre mit voller Kraft raus aufs Feld geradelt, wäre dann stehen geblieben, hätte mich auf das Mäuerchen neben der Baracke hingesetzt und hätte für mich selbst wiederholt, dass noch alles erfunden werden müsse. Vielleicht hätte ich auch an etwas Schönes gedacht, das ich dir hätte schreiben können.
Aber an diesem Abend nicht. An diesem Abend beobachte ich den Ameisendschungel aus der Höhe eines Gebäudes, das in das riesige Geflecht der Metropole gepflanzt ist. Mir scheint, als gleiche ich einem Außerirdischen. Und kein Blick ist mir je so grenzenlos erschienen.